Sie fragt bei den Kreaturen nach ihrem Allerliebsten

1
Wo ist der Schönste, den ich liebe?
Wo ist mein Seelenbräutigam?
Wo ist mein Hirt und auch mein Lamm,
Um den ich mich so sehr betrübe?
Sagt an, ihr Wiesen und ihr Matten,
Ob ich bei euch ihn finden soll,
Daß ich mich unter seinem Schatten
Kann laben und erfrischen wohl.

2
Sagt an, ihr Lilien und Narzissen,
Wo ist das zarte Lilienkind?
Ihr Rosen, saget mir geschwind,
Ob ich ihn kann bei euch genießen?
Ihr Hyazinthen und Violen,
Ihr Blumen alle mannigfalt,
Sagt, ob ich ihn bei euch soll holen,
Damit er mich erquicke bald?

3
Wo ist mein Brunn, ihr kühlen Brünne?
Ihr Bäche, wo ist meine Bach?
Mein Ursprung, dem ich gehe nach?
Mein Quell, auf den ich immer sinne?
Wo ist mein Lustwald, o ihr Wälder?
Ihr Ebenen, wo ist mein Plan?
Wo ist mein grünes Feld, ihr Felder?
Ach, zeigt mir doch zu ihm die Bahn!

4
Wo ist mein Täublein, ihr Gefieder?
Wo ist mein treuer Pelikan,
Der mich lebendig machen kann?
Ach, daß ich ihn doch finde wieder!
Ihr Berge, wo ist meine Höhe?
Ihr Täler, sagt, wo ist mein Tal?
Schaut, wie ich hin und wieder gehe
Und ihn gesucht hab überall!

5
Wo ist mein Leitstern, meine Sonne,
Mein Mond und ganzes Firmament?
Wo ist mein Anfang und mein End?
Wo ist mein Jubel, meine Wonne?
Wo ist mein Tod und auch mein Leben?
Mein Himmel und mein Paradeis?
Mein Herz, dem ich mich so ergeben,
Daß ich von keinem andern weiß?

6
Ach Gott, wo soll ich weiter fragen?
Er ist bei keiner Kreatur.
Wer führt mich über die Natur?
Wer schafft ein Ende meinem Klagen?
Ich muß mich über alles schwingen,
Muß mich erheben über mich:
Dann hoff ich, wird mirs wohl gelingen,
Daß ich, o Jesu, finde dich.

Heilige Seelenlust oder geistliche Hirtenlieder - Erstes Buch 12

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