Sie beklagt sich gegen ihren Geliebten wegen seines langen Außenbleibens

1
O Jesu, du verliebter Gott,
Wie läßt du mich so lang im Tod!
Ich seufz und sehne mich nach dir,
Wann kommst du denn einmal zu mir!

2
Die Kräfte alle nehmen ab,
Ich bin verschmacht und eil ins Grab.
Ich geh herum fast wie ein Schein
Vor übergroßer Liebespein.

3
Die ganze Welt wird sonst bespreit
Mit Phöbus Strahlen und erfreut.
Der Himmel träufelt seinen Tau
Auf manchen Acker, Feld und Au.

4
Der Regen tränkt das dürre Land
Und fället auch auf Staub und Sand.
Die kühlen Lüftlein sind gemein,
Wenn heiße Sommertage sein.

5
Nur ich muß ohne Labsal sein
In meiner großen Liebespein.
Ich lieb und werde nicht gewährt,
Was mein verliebtes Herz begehrt.

6
Wie manchen Tag und manche Nacht
Hab ich mit Seufzen zugebracht!
Wie lange wart ich schon, mein Licht,
Auf dich, du aber kommst noch nicht.

7
Ach, bleib doch nicht so lang und fern,
Mein Phöbus und mein Morgenstern.
Komm, strahl in meine Seel hinein,
Daß ich kann wieder fröhlich sein.

8
Du meines Herzens Silbertau,
Komm, fall herab auf dessen Au.
Du güldner Regen, meine Lust,
Komm, überschwemme diese Brust.

9
Ach, komm doch eilends und geschwind,
Mein Lüftlein und mein kühler Wind.
Komm und erquicke mich mit dir,
Denn ich bin matt und sterbe schier.

10
Nu, nu, du läßt mich noch allein!
Und muß es ja gestorben sein,
So wisse, daß ich dich, gleich viel,
Ob ich schon tot bin, lieben will.

Heilige Seelenlust oder geistliche Hirtenlieder - Erstes Buch 5

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