Was ist des Menschen Zeit und Leben/ als ein Tag/
Der einer düstren Nacht bey nahe gleichen mag;
Der Morgen geht dahin/ eh des Verstandes Licht
Sich von der Finsternis der jungen Jahr entbricht.
Der kurtze Mittag schließt den zweifelhafften Schein
Der Ehren und des Glücks in enge Schrancken ein/
Ein früher Abend raubt unfehlbar Sonn und Licht/
Daß auch der Morgen offt und Mittag unterbricht/
Auff diesen Abend folgt des Grabes schwartze Nacht.
Wohl dem/ der so den Tag des Lebens zugebracht/
Daß er die stille Nacht in süsser Ruh verschließt/
Und frölich mit der Zeit den andern Morgen grüßt/
Der einen ewigs Licht und Leben hoffen heist/
Den andern in das Reich der steten Nacht verweist.
O Licht/ von welchem ich empfangen Schein und Licht/
Mein Morgen weiß ohn dich von keinem Lichte nicht/
Mein Mittag muß ohn dich seyn düstre Mitternacht/
Mein Abend wird ohn dich in Schrecken zugebracht/
Drauff folget eine Nacht/ die mir in Ewigkeit
Mit schwerer Finsternis und trüben Schatten dräut.
Der Morgen ist nunmehr durch deine Gunst vorbey/
Darinn kein Augenblick von finstren Wercken frey/
Dieselben laß/ verbannt vor deinem Angesicht/
In stete Finsterniß/ mich weiter schrecken nicht;
Den Mittag meiner Zeit und Jahre tret ich an/
Gieb/ daß ich von dir Licht und Sonne schöpffen kan/
Daß sich mein Auge lenckt nach deiner Lehre Pol/
Biß ich den eitlen Glantz der Welt gesegnen soll/
Und von der trüben Nacht des Todes unerschreckt/
Zur frohen Ewigkeit von dir werd aufferweckt.

III. Himmelschlüssel oder Geistliche Gedichte 21

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