Étienne-Nicolas Méhul
Joseph in Ägypten
Oper in drei Aufzügen
Personen
Jakob, ein alter Hirte aus dem Lande Hebron
Joseph, unter dem Namen Kleophas, Statthalter in Egypten
Simeon,
Benjamin,
Ruben,
Naphtali,
Levi,
Juda,
Dan,
Gad,
Asser,
Isaschar,
Sebulon, Söhne Jakobs
Utobal, Josephs Untergebener und Vertrauter
Ein Offizier von Josephs Leibwache
Jungfrauen von Memphis. Israeliten. Egypter. Leibwache Josephs. Soldaten. Sklaven. Volk
Schauplatz: im ersten und dritten Aufzug zu Memphis in Josephs Palast. Im zweiten Aufzug in einer freien Gegend vor den Mauern von Memphis.
Zeit: Um 1715 vor Christi.
Rechts und links vom Darsteller.
Spielzeit: Zweiundeinehalbe Stunde.
Erste Aufführung:Paris, Dienstag, 17. Februar 1807.
Ouverture.
Erster Aufzug.
Ein prächtiger Vorsaal in Josephs Palast zu Memphis.
Im Hintergrunde eine durch einen breiten Vorhang geschlossene Säulenhalle mit einer Mitteltreppe nach vorn. Hinter dem Vorhang führen rückwärts rechts und links Treppen nach unten.
Es ist Nacht, vor Sonnenaufgang.
Von kleinen Säulen getragene brennende Flammenbecken an der Mitteltreppe hinten und seitlich rechts und links.
Rechts und links vom Darsteller.
Erster Auftritt.
Joseph allein.
Nr. 1. Arie.
JOSEPH kommt von rechts, geht nachdenkend mit verschränkten Armen auf und nieder.
Ach, mir lächelt umsonst huldvoll des Königs Blick,
Man kommt meinen Wünschen zuvor!
Und doch fühlt sich mein Herz, denk‘ ich an ihn zurück,
Von Sehnsucht gequält nach dem Glück, das ich verlor. –
Vaterland, dich mußt‘ ich jung verlassen!
Fern von dir haben mich die verkauft, die mich hassen.
Wenig rührt mich die Pracht, die mein Herz nicht erfreut. –
Jakob sehnt sich gewiß, an sein Herz mich zu drücken;
Ihn einmal noch zu sehn, den Vater, welch Entzücken!
Seine Thränen zu trocknen, zu stillen sein Leid!
Brüder voll Neid, Scheelsucht und Rache!
Euch flehte um Mitleid der Hilflose, Schwache,
Umsonst, als Sklaven verkauftet ihr ihn! –
Rührten euch denn nicht des Vaters Thränen?
Ihr saht seinen Schmerz, seinen Kummer, sein Sehnen,
Und bliebt verstockt! Ihr verdient meinen Haß!
Dennoch, blutbegier’ge Hyänen,
Ich fühl‘, daß mein Herz euch verzeiht!
Wäre es möglich, daß ihr bereut,
Dann versöhnten mich eure Thränen.
Doch ja! – Ihr verdient meinen Haß!
Dennoch, blutbegier’ge Hyänen,
Ich fühl‘, daß mein Herz euch verzeiht!
Wäre es möglich, daß ihr bereut,
Dann versöhnten mich eure Thränen.
Utobal kommt von links hinten.
Zweiter Auftritt.
Joseph, Utobal zu seiner Linken.
UTOBAL spricht. Wie, Herr, während ein tiefer Schlummer noch die Augen aller Bewohner von Memphis schließt, wandelst du allein in deinem Palaste umher? Und so oft ich dich allein sehe, deckt finsterer Gram deine sonst so heitere Stirn? Wer kann sagen, er sei glücklich, wenn der große Kleophas es nicht ist. Pharao ernannte dich zu seinem Statthalter, und du teilst mit ihm alle Gewalt. Deine weise Vorsicht rettete Egypten vor einer drückenden Hungersnot. Die Großen des Reichs hegen tiefe Ehrfurcht vor dir; der König liebt dich und das Volk betet dich an. Eine Ehre, die man sonst nur den Königen erzeigt, steht dir bevor. Morgen wirst du im Triumph durch die Stadt geführt, und wohin dein Blick sich wendet, siehst du Glückliche, die es durch dich sind.
JOSEPH. Wahr ist es, daß durch meine Vorsorge die Egypter im Überflusse leben. Aber lieber Utobal, in andern Ländern giebt es der Unglücklichen so viele!
UTOBAL. Und das kümmert dich? Bist du doch nicht beauftragt, für das Heil der ganzen Welt zu wachen.
JOSEPH. Du bist noch zu kurz in meinem Dienste, um mein ganzes Schicksal zu wissen. Jedoch ich lernte in dir einen redlichen Mann kennen, der mein ganzes Vertrauen verdient – und ich bedarf eines solchen.
UTOBAL. Herr, ich werde mich desselben würdig zeigen! Alles, was ich weiß, ist, daß du vor neun Jahren, durch eine unbekannte Gottheit erleuchtet, dem Könige das Schicksal seines Volkes weissagtest. Deine Weisheit schien ihm so groß, daß er dir seinen Siegelring an den Finger steckte, dich mit dem Namen Kleophas belegte, und dir die Regierung seines Reiches vertraute.
JOSEPH. Vernimm also: daß ich ein geborener Hebräer bin. Als Sklave wurde ich hierher verkauft. Die Rache eines wollüstigen Weibes ließ mich lange in einem abscheulichen Kerker schmachten. Meine Traumdeutungen befreiten mich und brachten mich zu hohen Ehren.
UTOBAL. So genau war ich bis jetzt mit deinem Schicksale nicht bekannt.
JOSEPH. Der Gott meiner Väter leitete mich durch viele Trübsale zum Glücke. Ich stamme von Eltern ab, deren Gewerbe hier in geringem Ansehen steht. Mein Vater ist ein Hirte, dessen zahlreiche Herden an den Ufern des Jordans weiden. Er heißt Jakob, ist ein Enkel Abrahams und seine seltenen Tugen den erwarben ihm die Gunst und den innigen Verkehr mit der Gottheit, deren sich sein Ahnherr rühmen konnte. Seine Familie bestand aus zwölf Söhnen. Ich war der älteste von zweien, die ihm seine geliebte Rahel geboren. Jakobs Liebe neigte sich vorzüglich zu mir. Dies erweckte den Neid meiner Brüder, sie warfen einen unverdienten Haß auf mich. Vernimm jetzt die Frevelthat, zu welcher dieser sie verleitete.
Morgengrauen.
Nr. 2. Romanze.
JOSEPH.
Ich war Jüngling noch an Jahren,
Vierzehn zählte kaum ich nur;
Und ich träumte nicht Gefahren,
Folgte meiner Brüder Spur;
Sichem gab uns fette Weide,
Sie gehörte unserm Stamm.
Niemand that ich was zuleide,
Und war schüchtern wie ein Lamm.
Wo drei Palmen einsam stehen,
Lag ich im Gebet vor Gott;
Da begannen ihr Vergehen
Meiner Brüder freche Rott‘.
Eine Grube war daneben,
Da hinein versenkt‘ man mich.
Ach, ich denk daran mit Beben,
Sie war kalt und schauerlich!
Endlich ward ich aufgezogen,
Ich war schon dem Tode nah;
Durst nach Gold hat überwogen:
Sklavenhändler waren da.
Diesen ward ich hingegeben,
Gierig teilten sie das Gold;
Meines teuren Vaters Leben
Klebt vielleicht am Sündensold!
Es wird ganz hell.
UTOBAL spricht. Und du rächtest dich nicht an diesen Pflichtvergessenen, da die Gewalt, welche dir Pharao verliehen, dir die Mittel dazu beut?
JOSEPH. Utobal, sie sind meine Brüder!
UTOBAL. Daß sie das vergaßen, dafür wird sie der Gott deiner Väter gestraft haben. Die Hungersnot, die jetzt rings um uns her herrscht –
JOSEPH. Trifft diese nicht auch meinen mir so teuren Vater? Ich unterstützte sie bisher heimlich, ließ ihnen von unserm Überflusse zukommen. Feinde und Neider meines Glücks entdeckten das, und erwirkten bei dem Könige eine strenge Fruchtsperre. Utobal, wie quälend ist mir der Gedanke, daß mein guter Vater vielleicht den schrecklichen Hungertod stirbt!
UTOBAL. Herr, befiehl über deinen Knecht! Wenn ich –
JOSEPH. Reise so schnell als möglich nach dem Lande Hebron. Erkundige dich, ob Jakob noch lebt. Sage ihm, er solle mit seiner Familie, seinen Knechten und seinen Herden hierher ziehen. Ich selbst würde seine Kniee umfassen, wenn das Heil der Egypter, deren Wohlfahrt der König in meine Hände legte, meine Abreise erlaubte. Die Stunde naht, wo das Volk auf den öffentlichen Plätzen die nötigen Unterstützungen aus unsern Vorratshäusern erwartet. Ich gehe, wohin mich meine Pflicht ruft. Von deinem Diensteifer, mein lieber Utobal, erwarte ich, daß du aufs schleunigste einen Auftrag erfüllst, von dem die Ruhe und das Glück meines Lebens abhängt. Er entfernt sich nach rechts ins Innere des Palastes.
Dritter Auftritt.
Utobal allein.
UTOBAL Joseph nachsehend. Welch ein Mann! Welche Tugenden! Die Gottheit hat ihn zu ihrem Liebling erkoren. Seit der König ihm seine Gewalt vertraute, herrscht das Recht, und jeder genießt sein Eigentum in Frieden. Er wendet sich nach links hinten. Ich eile, um seinen Auftrag zu erfüllen. Er will links hinten abgehen.
Ein Offizier tritt ihm von links hinten entgegen.
Sklaven kommen mit dem Offizier.
Vierter Auftritt.
Utobal, Offizier zu seiner Linken. Sklaven.
Offizier giebt den Sklaven nach den Flammenbecken hin einen Wink.
Die Sklaven verlöschen die brennenden Flammenbecken und entfernen sich nach links hinten.
OFFIZIER. Fremdlinge begehren beim Kleophas Gehör. Vergebens versagte ich ihnen den Eintritt, sie beharren auf ihrer Bitte.
UTOBAL. Und was verlangen diese Ungestümen?
OFFIZIER. Das weiß ich nicht. Sie scheinen sehr unglücklich zu sein. Ihre Kleidung zeigt von höchstem Elende; durch Thränen und Seufzer suchten sie mich zu erweichen.
UTOBAL. Woher kommen sie?
OFFIZIER. Aus dem Lande Kanaan. Es sind Hebräer.
UTOBAL. Aus dem Lande Kanaan? Führe sie hierher, behandle sie mit Liebe und Güte.
Offizier geht nach links hinten ab.
UTOBAL. Diese wichtige Neuigkeit muß ich sogleich dem Kleophas berichten. Vielleicht wird er durch sie von dem Schicksale seines Vaters unterrichtet. Er entfernt sich nach rechts in das Innere des Palastes.
Der Offizier führt die Söhne Jakobs ohne Benjamin, nachdem Utobal abgegangen ist, von links hinten herein.
Isaschar, Naphtali und Levi tragen Kästchen und Gefäße mit Geschenken.
Fünfter Auftritt.
Der Offizier. Zehn Söhne Jakobs.
OFFIZIER. Trocknet eure Thränen, der große Kleophas bewilligt euch Gehör; bald wird er hier erscheinen. Er entfernt sich nach rechts in das Innere des Palastes.
Sechster Auftritt.
Jakobs Söhne allein.
RUBEN. Brüder, vertraut dem Gott unserer Väter! Der große Kleophas, der Wohlthäter Egyptens, wird uns in dieser Gegend eine Freistatt gewähren; ist sie auch jetzt unfruchtbar, er wird uns seine Vorratskammern öffnen.
NAPHTALI. Was Gott verheißt, hält er gewiß. Sprach er nicht beim Opfer zu unserm Vater: »Jakob, zieh nach Egypten, dort wird sich dein Leid in Freude verkehren!«
SIMEON. Nur mich Unglücklichen quälen und drücken die schrecklichsten Gewissensbisse, seit ich diesen Boden betrat.
RUBEN. Warum fühlst du dich hier unglücklicher?
SIMEON leise zu seinen Brüdern. Wurde Joseph nicht nach Egypten?
NAPHTALI. Aber warum denn immer an den unglücklichen Joseph denken? Laß sie uns vergessen, jene Stunde der Übereilung. Gott hat uns gewiß verziehen, da er uns in dieses gastfreie Land führte. SIMEON. Nein, der Herr zog seine Hand ab von den strafwürdigen Söhnen Jakobs.
NAPHTALI. Siehst du nicht, daß seine Gnade noch über uns waltet. Er rettete uns vom Hungertode, der Kanaan verwüstet.
SIMEON. Ich bin es, ihr seid es, die dem menschlichen Geschlechte diese Plage bereiteten.
RUBEN. Und welch schreckliches Verbrechen haben wir denn begangen?
SIMEON. Du frägst, Ruben? Du – und mich?
NAPHTALI. Sollte ein einziger Fehltritt unser ganzes Leben vergiften?
SIMEON. Wenn man das Recht des Stärkeren gegen Jugend und Unschuld mißbraucht, das nennst du Fehltritt? Diese Mißhandlung lastet wie ein schweres Verbrechen auf meinem Herzen. Meine Seele findet keinen Frieden mehr!
RUBEN. Beruhige dich, Simeon. Gott ist so gnädig, als gerecht!
NAPHTALI. Sei ruhig! Bedenke, wenn unser ehrwürdiger Vater es erführe – sein Fluch -!
SIMEON. Wenn ihr die Furcht hegtet, meine Gewissensbisse möchten euch verraten, warum führtet ihr mich in dieses Land, wo der unglückliche Joseph als Sklave schmachtet? Warum hieltet ihr mich ab, in der Wüste zurückzubleiben? Hunger und Verzweiflung hätten mein armseliges Leben schon geendet.
RUBEN. Undankbarer, machst du uns unsere Liebe für dich zum Vorwurf.
SIMEON. Damals hättet ihr mir eure Liebe beweisen sollen, als meine treulosen Ratschläge euren Haß gegen den tugendhaften Joseph weckten!
NAPHTALI zu Simeon. Du sahst mich sein Schicksal beweinen – und – verzeih‘ mir’s – mein Herz verwünschte dich!
SIMEON. Was vermochten deine Verwünschungen, da der Fluch des Ewigen mich schon getroffen hatte? Statt mich zu verwünschen, hättest du mich mit dem Dolche durchbohren sollen, den ich gegen Joseph zückte.
NAPHTALI. Warst du nicht mein Bruder?
SIMEON. War Joseph nicht auch der meine?
RUBEN. Schone unser und stille deinen Schmerz!
NAPHTALI. Suche dich zu fassen!
Nr. 3. Ensemble.
SIMEON.
Nein! Nein! Gott der Herr ist beleidigt,
Er rächt gewiß, er rächt meine Missethat!
Auf meiner Stirn lest ihr die Worte,
Die seine Hand gezeichnet hat:
»Der Frevler finde kein Erbarmen,
Von den Sterblichen sei er geflohn!
Er riß aus väterlichen Armen
Den so zärtlich geliebten Sohn.«
Er fällt Ruben in die Arme.
RUBEN UND NAPHTALI ihn beruhigend.
O Simeon!
DIE ÜBRIGEN BRÜDER ebenso.
O Simeon!
RUBEN UND NAPHTALI.
Gebeugter Bruder!
DIE ÜBRIGEN BRÜDER.
Gebeugter Bruder!
ALLE BRÜDER zu Simeon.
Stille deinen herben Schmerz!
SIMEON sich erholend.
Wie ersetz‘ ich den Sohn unserm Vater?
DIE ÜBRIGEN BRÜDER.
Sprich doch nicht von unserm Vater!
Ach! Dieses zerreißt uns das Herz!
SIMEON.
Wenn oft, um meinen Schmerz zu stillen,
Mein Weib mir meine Kinder bringt,
Dann trifft mich Gottes schwere Rache!
Ich flieh ihren Arm, der mich umschlingt. –
Sie lächeln voll Unschuld mir entgegen,
Doch Schrecken und Wahnsinn ergreifen mich.
Ich les‘ in ihren kindlichen Zügen:
Undankbar
Weinend.
undankbar werden sie einst, wie ich!
Er bricht weinend in sich zusammen.
DIE BRÜDER.
O tröste dich, gebeugter Bruder!
SIMEON auffahrend, wie im Wahnsinn, mit einigen Schritten nach rechts.
Ich bin gestraft; Gott ist gerecht!
Verflucht bin ich und mein Geschlecht!
DIE BRÜDER.
O denk‘ an uns, an unsern Vater!
SIMEON.
Ich bin gestraft; Gott ist gerecht!
Verflucht bin ich und mein Geschlecht!
DIE BRÜDER.
O tröste dich, gebeugter Bruder!
O denk‘ an uns, an unsern Vater!
Ist deine Reue wirklich echt –
SIMEON mit einigen Schritten nach links.
Ich bin gestraft; Gott ist gerecht!
Verflucht bin ich und mein Geschlecht!
Er stürzt links vorn zusammen.
DIE BRÜDER.
Ist deine Reue wirklich echt,
Der Herr ist gnädig und gerecht!
O tröste dich, gebeugter Bruder,
O denk‘ an uns, an unsern Vater!
Ist deine Reue wirklich echt,
Der Herr ist gnädig und gerecht!
Man hört rechts entfernt einen Marsch.
Die Brüder ziehen sich in schräger Richtung nach links.
RUBEN.
Still! Horch, wer kommt?
DIE BRÜDER.
Horch, wer kommt? Seid alle stille!
Die Wache nähert sich uns schon!
Seid stille! seid stille!
Und ihnen folgt der Gouverneur.
O Simeon, sei ruhig!
SIMEON am Boden.
Wen Gottes Gericht verfolgt,
Der findet auf Erden nie Ruhe. – Weh mir!
DIE BRÜDER.
Sei stille! Sei stille! Sei stille!
Ach, müssen wir dich knieend flehn!
Barbar, willst du uns elend sehn?
Sei stille! Sei stille! Sei stille!
SIMEON.
Weh mir! O Gott, woher nehme ich Ruhe!
Er stürzt nach links hinten zurück, verdeckt von den Brüdern.
DIE BRÜDER.
Sei ruhig! Sei ruhig!
Vier und zwanzig Mann Leibwache erscheinen mit einem Anführer von rechts hinten und nehmen vor der Säulenhalle Aufstellung.
Der Offizier kommt gleichzeitig von rechts zurück.
Vier Sklaven nähern sich von links hinten.
Siebenter Auftritt.
Die Vorigen. Der Offizier rechts vorn. Die Leibwache hinten vor der Säulenhalle. Die Sklaven links hinten.
OFFIZIER spricht. Fremdlinge! Kleophas wird gleich hier erscheinen; erzeigt ihm die Ehren, die ihm als Stellvertreter des Königs gebühren! Werft euch vor ihm in den Staub! – Da ist er! Er tritt nach hinten und nimmt vor der Leibwache Aufstellung.
Joseph erscheint, mit Utobal zu seiner Rechten, von rechts.
Achter Auftritt.
Die Vorigen. Utobal und Joseph rechts vorn. Später das huldigende Volk.
Die Brüder werfen sich bei Josephs Erscheinen nieder und decken mit der Stirn den Boden.
UTOBAL leise zu Joseph. Das sind die Fremdlinge, die sich Hebräer nennen.
JOSEPH leise entgegnend. Wie schlägt mein Herz bei ihrem Anblick! Wenn unter ihnen einer meiner Brüder wäre? Er tritt mit Utobal näher.
RUBEN noch niedergeworfen. Herr, im Staube gebückt, flehen wir dich an -!
JOSEPH tritt gegen seine Brüder vor. Fremdlinge, steht auf!
Die Brüder erheben sich.
JOSEPH sich zu Utobal wendend, leise und bebend. Was seh ich, Utobal! Meine Augen trügen mich nicht! Es sind meine Brüder!
UTOBAL leise. Ist es möglich!
RUBEN zu Joseph. Herr, du siehst Unglückliche, die im Namen eines ganzen Volkes dich um Beistand anflehen.
JOSEPH leise zu Utobal. Das ist Ruben, der älteste meiner Brüder.
Isaschar, Naphtali und Levi nähern sich mit den Kästchen und Gefäßen.
NAPHTALI. Wir sind arme Hirtensöhne, Schätze haben wir nicht. Was wir dir hier zu Füßen legen, ist das Kostbarste, was wir besitzen. Herr, verschmähe nicht den Weihrauch, den wir bei unseren Festen der Gottheit zum Opfer bringen!
Isaschar, Naphtali und Levi setzen ihre Geschenke vor Joseph nieder.
JOSEPH leise zu Utobal, auf Naphtali blickend. Das ist Naphtali, der einzige, der mein Schicksal beweinte!
UTOBAL leise zu Joseph. Herr, verbirg deine Rührung!
RUBEN. Wohlthätiger Schutzgeist Egyptens, dessen weise Vorsicht dieses Volk vom Hungertode rettete, verzeih, wenn der Ruf deiner erbarmenden Großmut uns in dieses Land zog. Ach, die Gegend von Hebron Dothaims Felder, die Thäler von Sichem, sonst so fruchtbar, liegen wüst und öde; der Herr hat sein Volk durch Hunger heimgesucht; Israel ist gezwungen, das Land seiner Väter zu verlassen und die Altäre, die seine Hand zur Ehre des Ewigen errichtete.
JOSEPH beiseite. O unglückliches Land! Laut. Also euer ganzes Volk ist nach Egypten gezogen? Welche Ansprüche habt ihr auf Pharaos Wohlthaten?
RUBEN. Wir sind unglücklich! Herr, verwirf die Kinder Jakobs nicht!
JOSEPH bebend. Jakob nennt sich euer Vater?
RUBEN. Ja, Herr! Dieser ehrwürdige Greis wird von seinem Volke angebetet wie du. Er ist vom Unglück gebeugt, dennoch lobt er Gott, liebt seine Kinder und Menschenglück lag ihm stets am Herzen.
JOSEPH ergriffen, beiseite. O mein Vater!
NAPHTALI. Der Himmel fristete seine Tage zum Glück seiner Kinder!
JOSEPH beiseite. Ewiger, nimm meinen Dank!
NAPHTALI. Ein hohes Alter wurde ihm zu teil. Doch seine Seele ist ungeschwächt. Nur seine Augen wurden dunkel. Ach, die Freude, seine Kinder zu sehen, muß er entbehren.
JOSEPH. Und wie konntet ihr euren Vater verlassen, hilflos, in eurem Lande dem Hunger preisgegeben?
RUBEN. Herr, Jakob zog mit uns, unser Gott erlaubte es ihm.
JOSEPH. Warum seh‘ ich ihn denn nicht hier? Hättet ihr ihn allein gelassen?
RUBEN. Unser jüngster Bruder Benjamin verläßt ihn nie.
JOSEPH leise und entzückt zu Utobal. Benjamin, mein Bruder, der mit mir unter einem Herzen lag. Ach, kaum erträgt mein Herz die Fülle seines Glücks! Laut. Und werde ich euren Vater bald sehen?
RUBEN. In Gesellschaft unserer Weiber, unserer Kinder und zahlreicher Knechte durchwandert er noch die Wüste. Wir sind ihm vorgeeilt, um deinen Schutz, o Herr, für seine ganze Familie anzuflehen.
JOSEPH. Den gewähr‘ ich euch, Söhne Jakobs! Ihr sollt hier Hilfe und Rettung finden.
RUBEN. Ist es uns also erlaubt, unsere Zelte in der Fläche aufzuschlagen, von wo aus man das reiche Memphis erblickt?
JOSEPH. Das mögt ihr und ich werde für eure Bedürfnisse sorgen, Fremdlinge! ich werde euch Beweise geben, wie sehr ich Alter und Unglück ehre.
RUBEN. Herr, unsre Erkenntlichkeit –
Die Brüder stürzen zu Josephs Füßen.
JOSEPH gerührt und hingerissen. Steht auf, meine Br! Er faßt und sammelt sich. Fremdlinge, steht auf! Leise zu Utobal. Utobal, welch ein Augenblick! Mein Herz ist so bewegt!
Die Brüder erheben sich.
JOSEPH laut. Sind alle Söhne Jakobs vor mir versammelt? Hat euer ehrwürdiger Vater nie einen verloren?
NAPHTALI. Ja, Herr! Der Tod raubte uns unsern Bruder Joseph.
SIMEON aufgeschreckt. Wer spricht von Joseph? Er bricht sich durch seine Brüder einen Weg, so daß ihn Joseph erst jetzt erblickt.
JOSEPH beiseite. Das ist Simeon! Mein Blut wallt!
SIMEON hervortretend. Nein! Nein! Der Tod raubte ihn uns nicht. Ich hoffe, er lebt, er muß leben! Dies ist der einzige Trost, der mir übrig bleibt!
Der Offizier giebt den Sklaven einen Wink. Die vier Sklaven nähern sich den Geschenken und tragen sie nach rechts hinein.
Nr. 4. Finale.
JOSEPH für sich.
Ach, sein Anblick ist mir fürchterlich!
UTOBAL leise.
Herr, was ergreift so heftig dich?
JOSEPH leise zu Utobal.
Ihn seh‘ ich hier, den Wüterich!
RUBEN leise zu Simeon.
Stille den Schmerz, sonst drohn uns Gefahren!
NAPHTALI ebenso.
Stille den Schmerz, sonst drohn uns Gefahren!
EIN BRUDER ebenso.
Stille den Schmerz, sonst drohn uns Gefahren!
JOSEPH leise zu Utobal.
Ihn seh‘ ich hier, ihn, den Barbaren,
Dessen Dolch war gezückt auf mich!
ZWEI BRÜDER leise zu Simeon.
Stille den Schmerz, sonst drohn uns Gefahren!
EIN ANDERER BRUDER ebenso.
O dein Blick ist fürchterlich!
UTOBAL leise zu Joseph.
Zeige mir den frechen Barbaren,
Dessen Dolch war gezückt auf dich!
RUBEN leise zu Simeon.
O dein Blick ist fürchterlich!
JOSEPH leise zu Utobal.
Sein Blick zeigt dir den Verräter,
Sieh, seine Stirne bleicht der Schmerz
Und sein Gram zeigt den Missethäter,
Dem die Verzweiflung zerreißt das Herz!
Seine Stirn bleichet der Schmerz
Und die Verzweiflung zerreißt sein Herz!
Ha, sein Gram zeigt den Missethäter,
Denn die Verzweiflung zerreißt sein Herz!
Ha, sein Anblick erneuert meinen Schmerz!
UTOBAL leise zu Joseph.
Ja, seine Stirne bleichet der Schmerz
Und die Verzweiflung zerreißt sein Herz! –
Ha, seine Stirn bleichet der Schmerz,
Gram zerreißt sein blutend Herz!
SIMEON für sich.
Gram kränkt bis in den Tod den besten Vater
Ach, das zernagt mein blutendes Herz!
RUBEN leise zu Simeon.
Still‘ deinen Gram, beruh’ge dein Herz!
NAPHTALI leise zu Simeon.
Still‘ deinen Gram, beruh’ge dein Herz!
DIE ANDEREN BRÜDER leise zu Simeon.
O du wirst noch unser Verräter!
O fasse dich, still‘ deinen Schmerz!
Ach, mäß’ge dich, still deinen Schmerz!
JOSEPH für sich.
Doch ich will, will mich fassen,
Da mein Herz mir gebeut:
Meinen Bruder nicht zu hassen,
Den sein Fehltritt schmerzlich reut.
UTOBAL leise zu Joseph.
Seine Schuld ist erlassen,
Da dein Herz dir gebeut!
JOSEPH leise zu Utobal.
Doch ich will, will mich fassen,
Da mein Herz mir gebeut:
Einen Bruder nicht zu hassen,
Den sein Fehltritt schmerzlich reut.
UTOBAL leise zu Joseph.
Seine Schuld ist erlassen,
Da dein Herz dir gebeut:
Einen Bruder nicht zu hassen,
Den sein Fehltritt schmerzlich reut.
DIE BRÜDER leise zu Simeon.
Lieber Bruder, dich zu fassen,
Ist was Klugheit dir gebeut!
SIMEON leise.
Ja, ich fühl‘ es, mich zu fassen,
Ist, was Klugheit mir gebeut!
DIE BRÜDER leise zu Simeon.
Wir sind hilflos und verlassen,
Wenn ihn seine Gnade reut!
SIMEON leise.
Denn den Vater hilflos lassen,
Mehrte meine Strafbarkeit!
JOSEPH für sich.
Ja, der Bruder, der Bruder verzeiht! –
Laut.
Gehet nun eurem Vater entgegen
Und saget ihm: ich sei erfreut,
Daß dieses Landes reicher Segen
Ihm genug zur Nahrung beut.
DIE BRÜDER laut, in höchster Freude.
Welch ein Glück erleben wir heute!
Herr, dir vergelt‘ es Israels Gott!
Ohne dich wären wir des Hungers Beute,
Drohte uns allen qualvoller Tod.
JOSEPH leise zu Utobal.
Ach, Utobal, sieh‘ meine Freude!
Ich rette den Vater vom Tod!
DIE BRÜDER wie vorher.
Ach, ohne dich wären wir des Hungers Beute,
Ja, drohte uns ein qualvoller Tod!
Man hört einen Freudengesang hinter dem Mittelvorhang.
CHOR DES VOLKS draußen.
Verehrt! Verehrt -!
Verehrt ihn, den Retter und Freund!
JOSEPH.
Was hör‘ ich!
UTOBAL zu Joseph.
Dir verdankt das Volk seinen Segen
Und ehrt seinen Retter in dir!
Vor dem Palaste steht die Menge
Und jauchzet fröhlich dir entgegen
Und wartet deiner mit Begier.
CHOR DES VOLKS draußen.
Wer dankt -! Wer dankt -!
Wer dankt ihm nicht Wohlthat und Segen!
Verehrt ihn, den Retter und Freund!
JOSEPH leise zu Utobal.
Du wirst meinen Vater versorgen,
Denn ich setz‘ mein Vertrauen auf dich.
UTOBAL leise zu Joseph.
Herr, rechne in allem auf mich,
Für deinen Vater sorge ich!
DIE BRÜDER unter sich.
Beruhigt euch, wir sind geborgen,
Kleophas selbst verwendet sich.
Der Mittelvorhang öffnet sich zu einem Ausblick auf eine egyptische Landschaft.
Die Leibwache tritt vor und nimmt seitlich rechts und links Aufstellung.
Würdenträger, Bewaffnete, Volk, Männer, Franen, Kinder, Jünglinge und Jungfrauen kommen in jubelnder froher Bewegung von unten herauf über die Treppen hinter dem Vorhang und treten über die Mitteltreppe näher.
Joseph nimmt die Mitte.
Utobal tritt ihm zur Linken.
Die Brüder auf der linken Seite huldigen Joseph in ehrerbietigster Haltung.
CHOR DES VOLKS voll Jubel.
Ihm Dank! Er spendet Heil und Segen!
Verehrt ihn, den Retter und Freund!
Ihm Dank, ihm Dank, ihm Dank!
Verehrt ihn, den Retter und Freund!
DIE BRÜDER ebenso.
Ihm Dank! – Er spendet Heil und Segen,
Verehrt ihn, den Retter und Freund!
Joseph wendet sich nach hinten, seinen Brüdern zurückwinkend.
Nr. 5. Zwischenaktsmusik.
Zweiter Aufzug.
Eine Ebene vor Memphis mit den Zelten der Israeliten.
Das erste Zelt rechts vorn, welches Joseph für Jakob aufstellen ließ, ist reich verziert und geschlossen.
Es ist Nacht.
Erster Auftritt.
Joseph, Utobal zu seiner Linken.
JOSEPH mit Utobal noch zurückstehend. Laß diese Gegend von Wachen umstellen, damit die Einwohner von Memphis die Morgenandacht der Hebräer nicht stören.
UTOBAL. Herr, dein Befehl soll pünktlich befolgt werden. Aber darf ich dich allein unter diesen Fremdlingen lassen?
JOSEPH. Du weißt, daß sie mir das nicht sind.
UTOBAL. Wie leicht könntest du im Dunkeln dich verirren! Das Lager ist so unordentlich aufgeschlagen –
JOSEPH. Mein Herz leitet mich sicher zum Zelte meines Vaters.
UTOBAL. Es ist das deine, Herr! Wenn Jakob wüßte, daß er auf den reichen Polstern ruht, deren sich sein Sohn nur bei Feierlichkeiten bedient!
JOSEPH. Der stolze Pomp der Könige hat für ihn keinen Reiz. Sein Leben ist nur dem Dienste Gottes und dem Glück der Seinen gewidmet. Mein Herz schlägt vor Freude und Entzücken bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen!
UTOBAL. Mäßige deine Freude, Herr! Sie könnte traurige Folgen haben, denn dein Vater, von Alter und Schmerz geschwächt – Wäre es nicht besser, dieses Wiedersehen bis zur Ankunft in deinem Palast zu verschieben?
JOSEPH. Mein Herz verlangt zu sehr nach seinem Anblick, um mich bis dahin beruhigen zu können. Kehre du nach Memphis zurück!
UTOBAL. Nur vergiß nicht, Herr, daß beim Aufgang der Sonne deiner der Triumphzug wartet. Alles bereitet sich schon zu diesem Feste, und das Volk wartet mit Ungeduld auf den Anblick seines Wohlthäters.
JOSEPH. Wie lästig sind mir heute alle diese Ehren. Jetzt beschäftigt mich nur der Gedanke, bald an Jakobs Herzen zu ruhen. Doch die Zeit eilt. Geh – und mit dem ersten Strahl der Sonne komme wieder!
Utobal entfernt sich nach links hinten.
Zweiter Auftritt.
Joseph allein.
JOSEPH. Bald also werd‘ ich meinen ehrwürdigen Vater wiedersehen, der mich in zarter Jugend so innig liebte. Jakob, der Liebling deines Herzens ist dir nahe! Werd‘ ich meinen Gefühlen gebieten können? Ach, und dennoch muß ich es. Er tritt vor. Eine reiche Bekleidung leuchtet dort in der Dunkelheit! Er zeigt nach rechts vorn. Das ist Jakobs Zelt! Ich will hinein, will seinen Namen rufen! Mit einigen Schritten nach links. Doch nein! Darf ich seine Ruhe stören?
Simeon kommt in sich versunken von rechts vorn, ohne Joseph zu bemerken.
Dritter Auftritt.
Simeon rechts. Joseph links etwas zurückstehend.
SIMEON ohne Joseph zu sehen. Alle Kinder Israels schlafen in Frieden. Ich allein bin wach. O Simeon, die Hand des Ewigen ruht schwer auf dir!
JOSEPH für sich, aber laut. Meine erste Bitte sei Gnade für meine Brüder!
SIMEON wie oben. Ich weiche allen Menschen aus, denn von jedem fürchte ich den Vorwurf meines Verbrechens. Ich möchte es verhehlen, und doch liegt es mir stets auf der Zunge.
JOSEPH wie oben. O Simeon, dich beklage ich am meisten!
SIMEON horcht auf. Simeon? Man ruft mich, ich will horchen!
JOSEPH wie oben. Vergebens strebst du, deinem Gewissen zu entfliehen.
SIMEON. O es nagt an meinem Herzen!
JOSEPH wie oben. Josephs Bild schwebt dir immer vor, und Verzweiflung wütet in deinem Innern.
SIMEON sich nähernd. Wer du auch sein magst, du durchschaust das Herz des Verbrechers. O enthülle meine Greuelthat nicht!
JOSEPH. Wer bist du?
SIMEON. Nanntest du nicht Simeon? Sprachst du nicht von meinen Gewissensbissen?
JOSEPH ihn erkennend. Unglücklicher! Du bist es?
SIMEON. Du kennst den Grund meiner Qualen; aber ich beschwöre dich, verrate mich nicht! Ich würde zum Abscheu der Natur werden!
JOSEPH. Unglücklicher Simeon!
SIMEON. Besonders sage meinem Vater nichts. Es würde sein Tod sein!
JOSEPH. In mir findest du keinen Feind.
SIMEON. Du mußt ein Liebling der Gottheit sein, da du ein Verbrechen enthülltest, das mich seit fünfzehn Jahren drückt.
JOSEPH. Dein Unglück erregt meine Teilnahme, und preßt mir Thränen aus.
SIMEON. Ich vergieße keine Thränen mehr. Diese Gnade hat mir Gott versagt. Meine Augen sind trocken, und mein Herz glüht.
JOSEPH. Wie sehr beklage ich dich, Simeon!
SIMEON. Sprich meinen Namen nicht aus! Er zeigt nach rechts. Mein Vater ruht in diesem Zelte. Sein Sohn Benjamin schläft zu seinen Füßen. Erschrecke ihr Ohr nicht durch meinen Namen, durch den Namen eines Verbrechers.
JOSEPH. Wie, du wagst es nicht mehr, vor deinem Vater zu erscheinen?
SIMEON. Nein. Sein Anblick erregt das ganze Gefühl meiner Schuld. Nur nachts, wenn er schläft, komme ich, sein ehrwürdiges Gesicht zu betrachten. Wie der Tag anbricht, irre ich in den Wäldern umher.
JOSEPH. Seine Worte könnten dir Trost gewähren.
SIMEON. O nein, er würde von Joseph sprechen!
JOSEPH. Von Joseph?
SIMEON. Ja, von meinem Bruder, der ein Opfer meines Hasses wurde!
JOSEPH. Hat die Zeit deinen Schmerz nicht gemindert?
SIMEON. Eben in diesem Lande erwacht er doppelt. Wohin ich blicke, glaube ich den unglücklichen Joseph zu sehen. Die Erinnerung des Vergangenen vergiftet die Gegenwart. Der schöne Jüngling war der Stolz und der Liebling seines Vaters; in den Thälern von Sichem weidete er unsere Herden. Nie vergesse ich den Platz, wo ich ihn überfiel; drei Palmbäume standen in der Nähe. Das Geschrei des Unschuldigen tönt noch heute in meinen Ohren: »Vater, Vater!« rief er, »rette mich!« Er kehrt sich erschreckt nach rechts gegen Jakobs Zelt; leise. Unvorsichtiger! Wenn er dich gehört hätte! – Still! Still! Jakob schläft noch.
JOSEPH. Unglücklicher, wie schrecklich ist deine Lage! Doch du bereust, und Joseph wird dir verzeihen. Auch Gott wird dir bald – Simeon, tritt mir näher. Entferne dich nicht von mir, dein Freund bit tet dich; erwarte von ihm Trost und Beruhigung.
SIMEON. Ach, deine Stimme dringt mir ans Herz. Mir ist, als wäre ich weniger unglücklich. O Gott, schenke mir nur Thränen! Man hört in der Ferne rechts einen Harfenaccord. Der Tag bricht an. Meine Brüder bereiten sich mit Inbrunst, den Herrn zu loben. Ich muß diesen Ort verlassen.
Es beginnt langsam zu tagen.
JOSEPH. Warum vereinst du deine Stimme nicht mit den ihren?
SIMEON. Nein, ich habe ein schuldiges Herz! Gott würde mein Gebet verwerfen wie Kains Opfer. Es wird heller.
Aber was sehe ich? Beim Anbruch des Tages werde ich gewahr, daß – dieses reiche Gewand – dieser hehre Blick! Nein, ich irre mich nicht, ich erkenne in dir den Wohlthäter Israels. Herr, mein Verbrechen ist dir bekannt, aber laß es meine Familie nicht entgelten; lege ihr meine Schuld nicht zur Last! Erbarme dich meines unglücklichen Vaters! Verzeihe meinen Brüdern; ich will dein Angesicht meiden! Dem Ewigen entweichen kann ich nicht, sein Strafgericht folgt mir in der Wüste nach.Er eilt verzweifelt rechts hinten ab.
Man hört in der Ferne rechts einen zweiten Harfenaccord, welchem sich der Chor anschließt.
Vierter Auftritt.
Joseph allein. Dann Morgenchöre rechts entfernt.
JOSEPH. O bleib, Simeon! – Er hört mich nicht mehr. Ich werde nicht zögern, ihm seine Ruhe wiederzugeben. Er wendet sich nach hinten. Schon eilt die Sonne am Horizont herauf!
Nr. 6. Gebet.
MÄNNERCHOR rechts entfernt.
Gott Israels! Vater aller Wesen!
Gieb unsern Feldern doch Gedeihn!
Segne dein Volk, das du erlesen,
Auf deinen Schutz baun wir allein!
JOSEPH spricht. Die Morgengesänge beginnen. Die seligen Erinnerungen meiner Jugend füllen mein Herz mit sanftem Entzücken.
FRAUENCHOR rechts entfernt.
Gott Israels! Vater aller Wesen!
Gieb unsern Feldern doch Gedeihn!
Segne dein Volk, das du erlesen,
Auf deinen Schutz baun wir allein!
JOSEPH spricht. O glückliche Zeit meiner Jugend, da ich mit meinen Brüdern vereint das Lob der Gottheit sang!
MÄNNERCHOR UND FRAUENCHOR rechts ent fernt.
Gott Israels! Vater aller Wesen!
Gieb unsern Feldern doch Gedeihn!
Segne dein Volk, das du erlesen,
Auf deinen Schutz baun wir allein!
Benjamin tritt aus dem Zelte rechts vorn, welches er sorgsam wieder verschließt.
Fünfter Auftritt.
Benjamin, Joseph zu seiner Linken.
BENJAMIN spricht. Der Gesang meiner Brüder ertönt in diesen mir unbekannten Gegenden. Mein Vater schläft noch! Schlafe ruhig, Israel. Du betratst hier einen gastfreien Boden.
JOSEPH für sich. Das ist also Benjamin, den ich als Kind so oft auf meinen Armen trug und dessen Mund noch kaum meinen Namen stammeln konnte.
BENJAMIN das Zelt betrachtend. Welch ein Reichtum! Er blendet meine Augen, die kaum diesen mir neuen Glanz zu ertragen vermögen.
JOSEPH. Das wahre Bild der Unschuld! In seinen Zügen erkenne ich Rahel, unsere gemeinsame Mutter, die mein Vater vorzugsweise liebte.
BENJAMIN. Wer mag der wohlthätige Mann sein, der die Kinder Jakobs mit soviel Würde und Pracht aufnimmt? Er wendet sich und bemerkt Joseph. Ei, wer ist denn das?
JOSEPH. Sei mir gegrüßt, mein lieber Benjamin!
BENJAMIN. Wie, fremder Mann, du weißt meinen Namen? Und doch habe ich dich nie gesehen. Nach deinem reichen Gewande bist du ein Einwohner dieses Landes?
JOSEPH. Ja. Schon seit lange wohne ich in Mem phis; aber mein Herz liebt das Volk von Kanaan.
BENJAMIN. Du wohnst zu Memphis? Also kennst du auch wohl den königlichen Statthalter, der uns mit so vieler Güte aufnimmt?
JOSEPH. O ja, ich kenne ihn, Benjamin!
BENJAMIN. Nun, so sage ihm, daß wir ihn recht herzlich lieb haben. Sage ihm, daß mein Vater seinen Namen segnet und daß, wenn wir in unser Vaterland zurückkehren werden –
JOSEPH. In dein Vaterland, Benjamin?
BENJAMIN. Ja, in das einst so glückliche Land, das uns Gott selbst zum Eigentum gab.
JOSEPH. Du hast also das Thal Hebron ungern verlassen?
BENJAMIN. Ich bin ja dort geboren.
JOSEPH. Bei mir wirst du es bald vergessen.
BENJAMIN. Nie, nie! die Gebeine unserer Väter ruhen dort und dem Herrn bauten wir Altäre.
JOSEPH ihn in seine Arme schließend. Mein lieber Benjamin!
BENJAMIN. Du drückst mich in deine Arme? Wie konnte ich dir eine so zärtliche Teilnahme einflößen?
JOSEPH. Deine Jugend, deine Unschuld flößt sie mir ein. O wie lieb muß dich Jakob haben!
BENJAMIN. Ich nahm in seinem Herzen Josephs Platz ein
JOSEPH. Josephs?
BENJAMIN. Ja. So hieß der geliebte Bruder, den wir verloren haben. Ich war noch zu jung, um an dem Schmerz meiner Familie Anteil nehmen zu können. Ich wußte nicht, warum alle so bestürzt waren, alle seufzten und weinten. Doch mein Vater weinte mehr denn sie alle, und da weinte ich mit.
JOSEPH beiseite. Rührende Sprache der Unschuld!
Nr. 7. Romanze.
BENJAMIN.
Ach mußte der Tod ihn uns nehmen,
Den Sohn, den so sehr der Vater geliebt!
Ich seh ihn noch immer sich grämen,
Noch immer den Blick von Thränen getrübt.
Damit ich den Vater vergnüge,
Lächelt ihm oft mein kindlicher Blick,
Und er findet, o welch ein Glück,
Im Lächeln Josephs Züge!
So floß sie, die Zeit meiner Jugend,
Vom Vater geliebt, mir fröhlich dahin;
Er weckte die Liebe zur Tugend,
Ich horcht‘ auf ihn mit kindlichem Sinn.
Auch fand er an mir sein Ergötzen
Und ich mußte stets um ihn sein.
Öfters sagt‘ er dann, mich zu erfreun,
Ich müßte ihm Joseph ersetzen.
Von Joseph sprach jedermann Gutes,
Von allen ward er geschätzt und geliebt;
Er war immer fröhlichen Mutes,
Wie jeder, der nie Böses verübt.
Ach, warum mußte er sterben,
Sehnlich wünsch‘ ich, wie er zu sein!
Um den Vater stets zu erfreun,
Muß ich Josephs Tugend erwerben!
JOSEPH Benjamin mit Entzücken umarmend; spricht. O mein lieber Benjamin, sei noch lange der Trost und die Stütze deines guten Vaters. Du mußt ihm seinen Verlust zu ersetzen suchen.
BENJAMIN. Werde ich das je können? Er sieht sich um. Doch meine Brüder gehen schon im Lager umher, und Jakob schläft noch.
JOSEPH. Benjamin, könnte ich nicht, ohne seinen Schlaf zu unterbrechen, meine Blicke an den ehrwürdigen Zügen mei – deines Vaters laben?
BENJAMIN. Was könnte ich dir abschlagen? Aber aufwecken müssen wir ihn nicht! Er öffnet leise das Zelt rechts vorn.
Jakob ruht darin auf reichen Polstern.
Sechster Auftritt.
Die Vorigen. Jakob schlafend in seinem Zelte.
JOSEPH Jakob gerührt und ihn mit Ehrfurcht betrachtend. Ehrwürdiger Greis! Er tritt an Benjamin vorüber zu Jakob hin. Welche Wonne, dich wiederzusehen! Seine Züge sind gealtert, aber von ihrer Hoheit haben sie nichts verloren. Seine unumwölkte Stirn ist der Sitz der Tugend. Kaum vermag ich es, die Wallungen meines Herzens zu unterdrücken.
BENJAMIN. Was fehlt dir? Welch ein Gefühl ergreift dich?
JOSEPH. Benjamin, sein Anblick wirkt mit solcher Allgewalt auf mein Herz, daß – aber er schläft! Ich will das benutzen, um meinen Empfindungen Raum zu geben. Mit Ehrfurcht beuge ich meine Knie vor dieser erhabenen Stirn; mein gepreßtes Herz ergießt sich in Thränen der Liebe auf diese Hände, deren Segnungen Heil und Wohlfahrt verbreiten! Er kniet nieder und deckt mit seiner Stirn die Hände seines Vaters.
BENJAMIN. Fremder Mann, wenn du einer seiner Söhne wärst, so könntest du ihm nicht mehr Liebe und Achtung beweisen!
JOSEPH steht auf. Benjamin, ist ein tugendhafter Greis nicht der Vater aller guten Menschen?
BENJAMIN. Es ist wahr.
Man hört in der Ferne links einen kriegerischen Marsch: vier Takte Trompeten.
BENJAMIN. Was bedeutet die kriegerische Musik? Er geht zurück und späht nach links hinein.
JOSEPH für sich, beiseite. Das Volk erwartet mit Ungeduld meinen Triumphzug. Mit einigen Schritten nach links. Ich muß nach Memphis zurück. Wie gern entbehrte ich diese eitle Ehre, um mich nie mehr von meinem Vater zu trennen!
Trompetenruf.
Nr. 8. Terzett.
BENJAMIN.
Entfernte Gesänge höre ich erschallen,
Der Schlaf meines Vaters wird dadurch gestört.
Er kommt vor zum Zelte rechts.
JOSEPH beiseite.
O schöner Augenblick, du glücklichster von allen! Mir wird jetzt ein Genuß, den so lang ich entbehrt.
Trompetenruf.
BENJAMIN zu Joseph.
Sein Augenlicht erlosch; er kann dich nicht sehen,
Edler Mann, er vermißt dies Glück.
JOSEPH beiseite.
O Vater, wie oft erscholl zu Gott mein heißes Flehen;
Trompetenruf.
Daß dein Sohn sich einmal nur noch
Weide an deinem Blick!
Jakob erwacht und erhebt sich mit Hilfe Benjamins.
BENJAMIN.
Daß Benjamin den Vater leite,
Deshalb bleibt er bei ihm zurück.
Er geleitet Jakob aus dem Zelte nach vorn.
JAKOB zwischen Benjamin und Joseph.
Gott Abrahams, erhöre meine Bitte,
Denn zum Grabe habe ich nur noch wenige Schritte,
Von der Väter Gefild bin ich jetzt leider fern.
O Gott! O Gott! Wenn du nicht willst,
Daß mein Staub sei begraben
Im Lande, das die Väter einst besessen haben,
Ich ehre deinen Schluß, unterwerfe mich gern.
Dieser Boden decke immer,
Wenn gleich fremd, mein Gebein!
Nur meine Kinder laß glücklich stets sein!
BENJAMIN UND JOSEPH.
Gott Abrahams, erhöre meine Bitte,
Herr, auf dich hoffen wir allein.
JAKOB.
Dieser Boden decke immer,
Wenn gleich fremd, mein Gebein!
Nur meine Kinder laß glücklich stets sein,
Laß sie glücklich stets sein!
BENJAMIN UND JOSEPH.
Gott Abrahams, erhöre meine Bitte,
Lange noch lebe er in unsrer Mitte! –
Das wird das Glück der Kinder sein!
JAKOB spricht. Benjamin, ist die Stunde des Gebets schon vorüber? Ich höre die Gesänge deiner Brüder nicht mehr.
BENJAMIN. Die Morgenandacht ist geendet. Schon steigt die Sonne am Horizont herauf.
JAKOB. O Benjamin, welch einen Traum hat der Herr mir verliehen! Unstreitig zur Linderung meines bittern Kummers. Vernimm das Schreckliche und Tröstende desselben, das mir noch lebhaft vorschwebt.
BENJAMIN. Laß mich ihn hören, lieber Vater!
JAKOB. Ich wanderte, von meinen Kindern umgeben, durch die Wüste, die Kanaan von den Ufern des Nils trennt. Nach meiner Gewohnheit stützte ich mich auf dich, Benjamin!
BENJAMIN. Und nicht wahr, ich wandte alles an, dir den Weg weniger beschwerlich zu machen?
JAKOB. Ja, mein Sohn! Mit einemmale erhob sich der Wind, und eine dichte Staubwolke hüllte uns alle ein. Ich barg mein Gesicht, und glaubte dem Ersticken nicht entgehen zu können. Meine Knechte und Kamele thaten dasselbe. Der Windstoß ging vorüber, die Sonne schien wieder, ich richtete mein Haupt empor. Aber ach, ich sah mich allein in einer dürren Sandwüste, die ringsum nur durch den Horizont beschränkt war! Alle meine Kinder hatten mich verlassen.
BENJAMIN. Ich auch, lieber Vater? Das ist nicht möglich, ich war gewiß dir zur Seite!
JAKOB. Nein, mein Sohn, ich war allein!
BENJAMIN. Wie? Ich? Ich hätte dich verlassen? Dann hatten gewiß meine Brüder mich mit Gewalt von dir gerissen.
JOSEPH für sich. So wie einst mich!
JAKOB. Ich war allein, sage ich dir. Ein brennender Durst quälte mich. Meine Kräfte wurden schwach, ich war bereit, zu sterben, richtete meine Gebete zum Herrn, und empfahl meine Kinder seinem Schutze.
BENJAMIN. Du dachtest noch an deine Kinder, die dich verlassen hatten?
JAKOB. Plötzlich hörte ich deine Stimme!
BENJAMIN. Siehst du, daß ich dich nicht verließ?
JAKOB. Du hieltest an der Hand einen fremden Mann, der mich mit den auserlesensten Früchten erquickte. Dieser schöne und reichgekleidete Fremdling neigte sich vor mir; meine Augen erhielten ihre Sehkraft, und ich erkannte Josephs Züge.
JOSEPH gefühlvoll, beiseite. O mein Vater!
BENJAMIN. Joseph ist schon lange tot!
JAKOB. Ich drückte ihn an mein Herz, ich nannte ihn meinen Sohn, meinen geliebten Sohn. Dies war der seligste Augenblick meines Lebens! O mein Joseph, mein geliebter Joseph!
Nr. 9. Finale.
JAKOB klagend.
Joseph, mein Sohn, dich vergißt nie mein Herz!
Die Zeit vertrocknete nie meine Thränen!
JOSEPH beiseite.
In meinen Augen glänzen Wonnethränen,
An mich dachte stets sein Vaterherz!
BENJAMIN tröstend.
O trockne, Vater, deine Thränen,
Besiege, besiege deinen herben Schmerz!
JAKOB.
Ich mag schlafen oder wachen,
Immer seh‘ ich den geliebten Sohn;
Immer tönt in meinen Ohren
Nur seiner Stimme sanfter Ton.
BENJAMIN für sich.
Ach, das Bild von meinem Bruder
Schwebt ihm beständig vor.
JAKOB.
Nichts tröstet einen Vater,
Der seinen liebsten Sohn verlor!
JOSEPH beiseite.
Ich bin stets noch sein Liebling,
Den sein Herz sich erkor.
JAKOB.
Sagt eine Mutter mit Entzücken:
Ach, dieses Kind liebt mich so sehr!
O das erneut meinen Schmerz! Ich seufze:
Mein Joseph, mein Joseph, er liebte mich weit mehr!
BENJAMIN für sich.
Ach, das Bild von meinem Bruder
Schwebt ihm beständig vor.
JAKOB.
Nichts tröstet einen Vater,
Der seinen liebsten Sohn verlor!
JOSEPH beiseite.
Ich bin stets noch sein Liebling,
Den sein Herz sich erkor.
JAKOB.
Mein teurer Joseph, ohne dich
Bin ich jetzt allein auf der Erde!
JOSEPH.
Mein Herz zieht mit Gewalt,
Mich zu des Greises Füßen,
Ich kann nicht widerstehn.
Er wirft sich Jakob zu Füßen.
BENJAMIN.
Gott, was seh‘ ich!
JOSEPH erfaßt Jakobs Hand und neigt sein Haupt darauf.
O mein Vater!
JAKOB.
Wer faßt meine Hand
Und benetzt sie mit Thränen?
Utobal kommt von links hinten und tritt Joseph zur Linken.
Siebenter Auftritt.
Benjamin und Jakob rechts. Joseph und Utobal links. Dann die Brüder und der Triumphzug.
UTOBAL.
Das Volk, das allgemein im Freudentaumel schwebet,
Begehrt dich zu sehn, beginnet schon den Zug,
Im Triumph führt man dich nach Memphis!
Wie sehr wirst du geliebt! Allgemein ist die Wonne!
Sie schrei’n: Kleophas lebe hoch!
BENJAMIN UND JAKOB erstaunt.
Kleophas!
UTOBAL.
Dich zu sehn, ist das Volk voll Verlangen!
O zögre nicht, erfüll den Wunsch!
JAKOB zu Benjamin.
Mein Sohn, wo ist Kleophas?
BENJAMIN.
Der ist’s, der thränend dir
Die Hand mit Ehrfurcht küßte.
JAKOB.
Was höre ich! So viele Gnade!
Du unterstützest uns, großmüt’ger Mann!
O Herr, laß meinen Dank
Mich hier zu deinen Füßen –
Er will knieen.
JOSEPH verhindert ihn und schließt ihn in die Arme.
Nimmermehr, teurer Greis!
Komm in meine Arme!
UTOBAL.
Sieh, Herr, der Zug des Volks
Nähert schon sich dem Lager!
Die Brüder versammeln sich von allen Seiten und sehen dem Zug entgegen.
Der Triumphzug: Leibwachen, huldigende Große des Reichs, Würdenträger, Bewaffnete; Einwohner von Memphis, Männer, Frauen, Kinder, Jünglinge und Jungfrauen mit Palmzweigen; Israeliten, Frauen und Mädchen mit Blumen und Rauchfässern ziehen im Hintergrunde von links nach rechts vorüber.
Vier Sklaven ziehen inmitten des Zuges einen königlichen, mit Straußen- und Pfauenfedern geschmückten Triumphwagen und harren auf Joseph.
JOSEPH nimmt zwischen Benjamin und Jakob die Mitte.
So kommt und folgt mir beide, ich leite Jakobs Schritt.
Er reicht Benjamin und Jakob die Hand.
Teilt mit mir alle Ehren dieses glänzenden Festes,
Das ein erkenntlich Volk, mir zu danken, bereitet.
Ihr verherrlicht den Triumph, den man mir zugedacht.
Neben mir nehmt ihr Platz, Benjamin und sein Vater.
Ganz Memphis soll es sehen, wie sehr ich Unschuld verehre.
Wie wert mir sei dieser tugendhafte Greis!
Er besteigt mit Jakob den Triumphwagen.
Benjamin geht dem Wagen zur Rechten.
CHOR.
Groß und hehr sind die Siege,
Die ein Volk dem erkannt,
Der den Lorbeer nicht durch Kriege,
Nur durch Segnungen sich wand!
Uns verschaffte Brot zur Gnüge
Seine güt’ge Vaterhand.
Der Zug entfernt sich nach links.
Nr. 10. Zwischenaktsmusik.
Dritter Aufzug.
Ein Saal im Innern von Josephs Palast.
Rechts und links seitlich Estraden mit Sitzpolstern. Inmitten des Saales ein hufeisenförmiger, mit Speisen und Getränken in kostbaren Gefäßen besetzter Tisch mit zwölf Sitzpolstern; das mittlere Stück des Tisches ist‘ herausnehmbar, während die Seitenteile stehen bleiben können.
Es ist Tag.
Erster Auftritt.
Joseph. Jakob und seine Söhne ohne Simeon. Harfenspielende Töchter des Landes. Bedienende Sklaven.
Jakob sitzt am Hufeisentisch auf dem mittleren Ehrenplatz.
Joseph sitzt Jakob zur Linken.
Benjamin ebenso Jakob zur Rechten.
Die andern Brüder auf den übrigen Polstern.
Die Harfenspielerinnen sitzen mit ihren Harfen auf den Estraden rechts und links.
Die Sklaven bedienen bei Tisch.
JAKOB spricht. Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens. Zu Joseph. Herr, deine Güte ist unaus sprechlich! Wir sind geringe Leute, Hirten! Wie können wir auf die Ehren Anspruch machen, die du uns erzeigst?
JOSEPH. Bald wirst du erfahren, welche gerechte Ansprüche du auf meine Achtung hast, daß diese Ehrenbezeigungen dir gebühren.
JAKOB. Du würdigst mich, an deiner Seite zu sitzen, umringst mich mit allen meinen Kindern.
BENJAMIN. Lieber Vater, Simeon fehlt!
JAKOB. Wie? Simeon flieht noch immer meine Gegenwart? Will er den Kummer mehren, der seit Josephs Verlust mein Herz belastet?
RUBEN. Mein teurer Vater, können denn die Feste dein Herz nicht zur Freude stimmen, die der großmütige Mann uns bereitet, der dir zur Seite sitzt? Immer denkst du nur an Joseph, immer sprichst du nur von ihm. Sind wir nicht auch deine Kinder?
JAKOB. Wie, Ruben? Du, der älteste von ihnen, du wirfst mir meinen Schmerz vor? Erinnerst du dich nicht mehr des unglücklichen Tages, da ihr mir seinen Tod ankündetet? Damals weintet ihr alle! Das habt ihr vergessen, denn ihr wart nur seine Brüder. Die Thränen eines Vaters über das verlorene Kind trocknen nie.
Joseph ergreift Jakobs Hand und drückt sie an sein Herz.
JAKOB. Bist du es, Benjamin, der meine Hand mit solcher Inbrunst drückt?
BENJAMIN. Nein, lieber Vater! Unser großmütiger Wohlthäter!
JAKOB zu Joseph. Verzeih‘ mir’s, Herr! Ich glaubte den Händedruck eines Sohnes zu fühlen.
JOSEPH zu Jakob. Jakob, beruhige dich über Simeons Schicksal. Auf meinen Befehl sucht man ihn auf, und bald wird man ihn in deine Arme führen. Sklaven, entfernt euch!
Die Sklaven entfernen sich nach rechts hinten.
JOSEPH. Ihr Töchter dieses Landes, laßt eure goldnen Harfen ertönen. Durch mich belehrt, begleitet euren Gesang. Singt das Lob des einigen, großen, allmächtigen Gottes!
JAKOB. Wie, Herr, bekennst du dich zu unserer Lehre?
Nr. 11. Gesang junger Mädchen von Memphis.
CHOR JUNGER MÄDCHEN spielen und singen.
Lobt den Herrn mit Saitenspiel und Harfen!
Groß ist der Herr, Israels Gott!
Ewig während ist seine Gnade
Und stark seine Hilfe in der Not.
EIN JUNGES MÄDCHEN.
Durch ihn wird befruchtet die Erde;
Durch ihn wird bevölkert Luft und Meer.
Entstanden durch sein mächtig Werde!
Herrscht er im All. Groß ist der Herr!
CHOR.
Lobt den Herrn mit Saitenspiel und Harfen!
Groß ist der Herr, Israels Gott!
Ewig während ist seine Gnade
Und stark seine Hilfe in der Not.
EIN JUNGES MÄDCHEN.
Die Berge, wo man Kräuter findet,
Und die Weide, die in Thälern grünt;
Die Felder, wo man Garben bindet,
Segnet Gott, wenn auch oft unverdient.
CHOR.
Lobt den Herrn mit Saitenspiel und Harfen!
Groß ist der Herr, Israels Gott!
Ewig während ist seine Gnade
Und stark seine Hilfe in der Not.
EIN JUNGES MÄDCHEN.
Durch ihn erhalten Ehen Segen;
Auf ihn baut das Weib mit Zuversicht.
Fröhlich sieht sie der Frucht entgegen,
Und süß ist ihr die Mutterpflicht.
CHOR.
Lobt den Herrn mit Saitenspiel und Harfen!
Groß ist der Herr, Israels Gott!
Ewig während ist seine Gnade
Und stark seine Hilfe in der Not.
Benjamin, Jakob, Joseph erheben sich mit den Brüdern und gehen während der letzten acht Takte vor.
Die Sklaven treten von rechts hinten wieder ein, entfernen die Gefäße, die Polster und das Mittelstück des Hufeisentisches, während die beiden Seitenteile stehen bleiben, nach rechts hinten hinaus.
Utobal kommt mit Leibwache von links hinten.
Zweiter Auftritt.
Joseph in der Mitte, zwischen Jakob und Utobal. Jakob Joseph zur Rechten. Die Brüder zurückstehend. Die Leibwache im Hintergrunde. Die Harfenspielerinnen auf den Estraden.
UTOBAL. Herr, laß die Gesänge verstummen!
Die Harfenspielerinnen stehen auf.
UTOBAL. Vergebens wurdest du der Wohlthäter Egyptens; vergebens erteilte dir Pharao seine ganze Macht, Feinde und Neider haben es gewagt, dich anzuklagen.
Die Harfenspielerinnen entfernen sich langsam und unauffällig nach rechts und links hinten.
JOSEPH. Mich anzuklagen! Wessen beschuldigt man mich?
UTOBAL. Ohne höheren Befehl ein fremdes Volk aufgenommen zu haben, dem du Unterstützungen erteilst, die nur den Egyptern vorbehalten sind. Du ließest einen geringen Hirten an den Ehren teilnehmen, die nur dir bereitet wären.
JAKOB. Großmütiger Mann, sind wir schuld an der Ungnade des Königs und an deinem Sturz?
JOSEPH. Beruhige dich, ehrwürdiger Greis!
UTOBAL. Die feilen Höflinge hetzen die Egypter gegen die Kanaäer auf. Schon sind einige dieser Fremdlinge mißhandelt worden.
JOSEPH. Wie, man mißhandelt die Kanaäer? Die Strafbaren sollen zittern. Ich eile zu den Füßen des Throns; der König soll die Stimme der Wahrheit hören. Die Gerechtigkeit Gottes wird offenbar werden, und meine Feinde sollen beschämt dastehen. Ihr, Söhne Jakobs, geht durch die Straßen von Memphis; sammelt eure Freunde und Knechte in meinem Palast; mit meinem Leben hafte ich für ihre Sicherheit. Und ihr, Egypter! Bei dem Gott, durch den ich eure Trübsale weissagte, schwöre ich: wer seine verruchte Hand gegen die Kinder Israels aufhebt, der ist auf der Stelle des Todes! Leibwachen, begleitet diese Fremdlinge! Eurem Schutze übergebe ich sie!
Die Söhne Jakobs gehen, von der Leibwache begleitet, nach links hinten ab.
JOSEPH. Du, Benjamin, bleibst hier bei deinem Vater. Er entfernt sich eilig nach rechts hinten.
Utobal folgt ihm.
Dritter Auftritt.
Jakob, Benjamin zu seiner Linken.
JAKOB. Wohlthätiger Mann, die Segnungen des Ewigen –
BENJAMIN. Lieber Vater, er hört dich nicht mehr!
JAKOB. Auch in seiner Abwesenheit müssen wir die brünstigsten Gebete für ihn zum Himmel schicken. Dankbarkeit ist das mächtigste Gefühl. Wenn ich die Stimme unseres Wohlthäters vernehme, dann durchschauert mein Herz ein so sanftes Entzücken –
BENJAMIN. Auch er ist bei deinem Anblicke ganz außer sich. Als ich während deines Schlafs mit ihm von meiner Liebe, von deinen Tugenden sprach, neigte er sein Haupt vor dir, und Thränen glänzten in seinen Augen.
JAKOB. Wie? Dieser große Sterbliche neigte sich vor Jakob?
BENJAMIN. Ja, lieber Vater! »Benjamin,« sagte er zu mir, indem er vor dir kniete, »ich ehre das Alter deines Vaters.«
JAKOB. O gesegnet sind die Urheber seiner Tage! Gesegnet ist der Vater, der ihn Sohn nennen kann!
BENJAMIN. O glückliches Kind, das ihn Bruder nennen kann!
JAKOB. Und an welchen Ort hat dieser Retter unserer Familie uns geführt?
BENJAMIN. In einen reichen Palast. Die kostbarsten Metalle schmücken seine Wände.
JAKOB. Er muß also sehr reich sein.
BENJAMIN. In Gold und Purpur ist er gekleidet.
JAKOB. Er ist von Leibwachen umringt?
BENJAMIN. Und von Dienern. Ein Tag reichte nicht hin, seine Sklaven zu zählen.
JAKOB. Er ist vom Volke geliebt?
BENJAMIN. Du hast seinen Jubel gehört.
JAKOB. Und doch hat er Feinde!
BENJAMIN. Lieber Vater, wie geht es zu, daß man Feinde hat, wenn man nichts als Gutes thut?
JAKOB. Weil es noch so manche Gottlose giebt, mein Sohn! – Man nennt ihn Kleophas?
BENJAMIN. Ja, lieber Vater!
JAKOB. Ist er in diesem Lande geboren?
BENJAMIN. Das weiß ich nicht.
JAKOB. Beschreibe mir seine Züge, die meine Augen leider nicht sehen können!
BENJAMIN. Seine Züge sind edel, sein Wuchs schlank; dunkle Haare fallen in Locken um seine Schultern.
JAKOB. Benjamin, du rufst mir Joseph ins Gedächtnis zurück.
BENJAMIN. Sein Blick ist sanft, seine Stimme ist –
JAKOB. O mehr denn einmal glaubte ich Josephs Stimme zu hören!
BENJAMIN. Kaum mag er dreißig Jahre zählen.
JAKOB. So alt wäre auch jetzt Joseph.
BENJAMIN. Lieber Vater, warum erneuerst du deinen Schmerz durch vergebliche Erinnerungen? Du bist ja nur zu gewiß, daß Rahels Sohn, daß mein Bruder Joseph nicht mehr lebt.
JAKOB. Daß er für mich verloren ist, weiß ich leider gewiß. Ja, ich habe unrecht, ohne Unterlaß an ihn zu denken. Ersetzest du ihn nicht meinem Herzen? Ohne dich, Benjamin, lebte ich einsam. Deine Brüder haben Kinder; sie alle vergessen ihren alten Vater.
Nr. 12. Duett.
JAKOB.
Du bist die Stütze deines Vaters,
So lang ich leb‘, läßt du mich nicht allein.
BENJAMIN.
Ja, ich versprech‘ es dir, mein Vater!
So lang du lebst, werd ich dein Führer sein.
JAKOB.
Des Augenlichts bin ich beraubet,
Und du, du reichst mir hilfreich deine Hand!
BENJAMIN.
So lang du lebest, führt dich meine Hand!
JAKOB.
Und du, du reichst mir hilfreich deine Hand!
BENJAMIN.
So lang du lebest, führt dich meine Hand!
JAKOB.
Da mich meine Kräfte verlassen,
Des Alters Gebrechen und Beschwerden drohn,
O welch ein Trost, um mich zu fassen:
Mir bleibt mein lieber treuer Sohn!
BENJAMIN.
Niemals werde ich dich verlassen,
Niemals dich verlassen!
JAKOB.
Mein Benjamin! Sohn meiner Liebe!
Du Sohn, wie Kinder selten sind;
Komm, einz’ge Stütze meines Alters,
Mein Benjamin, Sohn meiner Liebe,
Komm an mein Herz! Komm, teures Kind!
BENJAMIN.
Dich, geliebter Vater, sollt‘ ich lassen,
Nicht deinen Schritt im Alter leiten?
Nein, diese Pflicht übt mit Lust dein Kind.
O diese Pflicht übt mit Lust dein Kind.
JAKOB.
Komm an mein Herz, o teures Kind!
Mein teures Kind, mein teures Kind!
BENJAMIN.
Diese süße Pflicht erfüllt mit Lust dein Kind!
Übt mit Lust dein Kind, übt mit Lust dein Kind!
Der Offizier begleitet Simeon von links hinten herein.
Vierter Auftritt.
Jakob und Benjamin rechts vorn. Der Offizier und Simeon links hinten.
SIMEON spricht zu dem Offizier. Wohin führst du mich?
OFFIZIER ihm entgegnend. Auf Kleophas Befehl bleibst du bei deinem Vater. Er geht rechts hinten ab.
Fünfter Auftritt.
Jakob. Benjamin. Simeon.
BENJAMIN eilt nach hinten zu Simeon. Bist du es, Simeon? O komm und hilf mir unsern Vater trösten!
SIMEON. Ich? Ihn trösten, Benjamin?
BENJAMIN führt Simeon näher. Stets spricht er von Joseph.
SIMEON. Von Joseph? Für sich. O mein Gott!
JAKOB. Warum fliehst du mich, Simeon? Wenn irgend ein Kummer dich quält, warum vertraust du ihn deinem Vater nicht? Wessen Tröstungen sind vermögender, dir die Seelenruhe wiederzugeben? Mein Sohn, öffne mir dein Herz; sage mir, was dich quält!
SIMEON. O nie, nie!
Benjamin geht unauffällig hinter Jakob weg und tritt ihm zur Rechten.
JAKOB. Dachtest auch du so ungerecht als deine Brüder? Machst auch du mir die Thränen zum Vorwurf, die ich über Josephs Schicksal vergieße? Simeon, auch du bist Vater! Wenn du eines deiner Kinder durch einen unvorhergesehenen Zufall verlörst, würde die Zeit je deine Thränen trocknen, mein Sohn?
SIMEON. Vater, Vater! Du zerreißest mir das Herz!
JAKOB. Und doch glauben deine Brüder sich dadurch gekränkt, daß ich den Verlorenen noch immer beweine. Die Undankbaren! Vatergefühle sind ihnen fremd. Reiche mir deine Hand, Simeon! Glaube mir, jedes Vaterherz fühlt sich zu dem Kinde hingezogen, das eben um ihn ist; diesem Kinde widmet er dann seine ganze Liebe, sucht es durch Rat und Trost aufzurichten.
SIMEON. Dieser Liebe bin ich nicht wert!
JAKOB. Ich kenne dich, Simeon! Deine heftige auffahrende Gemütsart hat dich oft von mir entfernt. Die kindlichen Spiele deiner Brüder, ihre unschuldigen Freuden verschmähtest du. Mit Bogen und Pfeil der Jagd nachzugehen, das war dein einziges Vergnügen. Du lebtest einsam in den Wäldern, deine Sitten wurden rauh. Sollte die Gewohnheit, das Blut der Tiere fließen zu sehen, dein Herz verhärtet haben? Belastet ein Menschenmord dein Gewissen?
SIMEON rasch. Nein, o nein! Meine Hände sind rein von Menschenblut. Aber – o Gott!
BENJAMIN. Lieber Vater, wie kannst du eine solche Greuelthat von Simeon argwöhnen? Ist er nicht Jakobs Sohn? Kann dein Stamm sich je gegen Gott und Menschen so versündigen?
SIMEON lebhaft. Der Stamm Jakobs wird vor Gott verflucht sein!
BENJAMIN. Was sagst du, Bruder?
SIMEON. Verzeih! Meine Unruhe, mein verirrter Sinn -!
JAKOB. Simeon, Gott sagte zu seinem Knechte: »In Egypten wirst du deine Söhne segnen; von ihnen werden Könige stammen, und deine Nachkommenschaft, zahlreich wie der Sand am Meere, wird sich über die ganze Erde verbreiten.«
SIMEON. Er sagte auch: »Simeon, der Gewaltthätige, wird der Ehre Jakobs nicht teilhaft werden.«
JAKOB. Wer hat dir Gottes Stimme kund gethan?
SIMEON. Noch sagte er: »Joseph wird der fruchtbare Zweig sein -«
BENJAMIN. Halt ein, Bruder? Warum sprichst du von Joseph?
JAKOB. Grausamer! Ist es dir nicht bekannt, daß er tot ist?
SIMEON außer sich. O mein nagendes Gewissen!
JAKOB. Haben nicht alle meine Kinder seinen Verlust tief empfunden?
BENJAMIN. Als Kind konnte ich kaum lallen; aber ich weinte mit.
SIMEON. Die Glut, die in meinem Innern tobt, kann ich nicht ersticken! Gottes Strafgericht verfolgt mich! Der Todesengel schwebt drohend über mir! O Joseph!
JAKOB. Unglücklicher! Was hast du begangen?
SIMEON. Vater, du wirst mich verfluchen!
JAKOB. Dich verfluchen? O Himmel!
SIMEON. Ein schweres Verbrechen lastet auf mir. Joseph –
JAKOB. Ein schweres Verbrechen? Du nennst Joseph -!
BENJAMIN. Simeon! hast du ihn gemordet?
SIMEON. Nein, nein! Wenn der Ewige gerecht ist, so lebt er, so muß er leben, um seine schuldigen Brüder zu bestrafen!
BENJAMIN. Seine schuldigen Brüder?
JAKOB mit ausbrechender Freude. Joseph wäre also nicht tot! – Und fünfzehn Jahre konntet ihr meine Thränen um ihn fließen sehen?
SIMEON. Sie fielen heiß auf mein Herz!
JAKOB. Warst du es nicht, der mir verkündete, ein wildes Tier habe ihn zerrissen?
SIMEON. Da betrog ich dich!
JAKOB. Auch deine Brüder stürzten nieder in den Staub und jammerten laut!
SIMEON. Auch sie betrogen dich.
JAKOB. Warst du es nicht, der mir sein blutiges Gewand zeigte? Schluchzend sagtest du: »Weine Vater, weine! Dein geliebter Sohn ist tot!«
SIMEON. Alles war Betrug!
JAKOB. Treulose! Wohin habt ihr ihn geschleppt? Wo kann ich ihn wiederfinden?
SIMEON. Was aus ihm geworden, weiß ich nicht.
JAKOB. Aber sein blutiges Gewand?
SIMEON. War in das Blut eines Lammes getaucht.
JAKOB stark und fürchterlich. Von deinen Händen fordere ich ihn! Sage mir, Verworfener: wo ist dein Bruder?
SIMEON leise und zitternd. So frug der Ewige Kain!
BENJAMIN sanft. Wo ist mein Bruder?
SIMEON. Schon war der Mordstahl über ihn gezückt; aber die Hand des Ewigen hielt mich zurück. An meinen Händen klebt sein Blut nicht.
JAKOB. Welch ein Los hast du ihm bereitet?
SIMEON. Ich habe ihn verkauft!
JAKOB nach einer Pause des Entsetzens. Verkauft?
BENJAMIN. Israels Blut unter den Sklaven!
SIMEON im tiefsten Schmerz. Vater!
JAKOB nach einer Pause, zurückweisend. Dein Vater?!
SIMEON. Nein, ich bin ein Verworfener! Diesen ehrwürdigen Namen darf ich nicht mehr aussprechen.
JAKOB. Also auch deine Brüder sind strafbar?
SIMEON. Ich mehr, denn sie alle!
JAKOB. Verruchte! Was bewog euch zu dieser Greuelthat?
SIMEON. Neid, Haß, Eifersucht. Du sprachst nur immer von Joseph, liebtest keinen so sehr, wie Joseph, und so ward er uns verhaßt. Sein Untergang wurde von uns beschlossen. Meine Marter, die Gewissensbisse, die mich von diesem Tage an drückten, blieben dir verborgen. Gottes Allmacht traf mich wie Kain. Das Mark in meinen Beinen vertrocknete, Wahnsinn ergriff mich, mein stierer Blick bezeichnete den Missethäter. Vergebens suchte ich Trost bei meinem Weibe, bei meinen Kindern – der Verbrecher findet nirgends Ruhe. Ich floh das väterliche Dach; mein Lager blieb einsam; ich irrte in den Wäldern umher; schlief in Höhlen und Klüften; Josephs Name schallte in den Wüsten wieder. Gott hörte mein Geschrei nicht; die Schuld wurde nicht von meinem Haupte genommen, ich war und blieb unglücklich.
JAKOB nach einer Pause, gerührt. O Simeon!
SIMEON. Nein! Nicht dein Mitleid will ich erwecken. Ich kenne die Größe meines Verbrechens. Der Ewige hat es mir nicht verziehen; und auch du mußt unerbittlich sein. Den geliebten Sohn habe ich dir geraubt; ich zog ihm sein Gewand ab. Ich verkaufte mein Blut, das deine, Abrahams Blut. Vater! Er fällt vor Jakob zusammen. Hier liege ich zu deinen Füßen; strafe mich, verfluche mich, verfluche meine Nachkommenschaft!
JAKOB. Gott des Zorns! Er wendet sich nach links hinten. Welch ein Geräusch?
BENJAMIN. Meine Brüder kommen zurück! Er geht ihnen entgegen.
Simeon erhebt sich langsam und schleppt sich nach rechts vorn.
JAKOB. Die Bösewichter!
Die Söhne Jakobs kommen von links hinten.
Sechster Auftritt.
Simeon rechts vorn. Benjamin und Jakob in der Mitte. Die Söhne Jakobs auf der linken Seite.
RUBEN. Der großmütigen Sorgfalt unseres Wohlthäters verdanken wir es –
JAKOB. Dürft ihr mir noch unter die Augen treten?
RUBEN. Was haben wir verbrochen?
NAPHTALI. Was haben wir verschuldet?
JAKOB. Hartherzige! Ihr fragt noch? So leicht konntet ihr es vergessen?
RUBEN. O Jakob!
JAKOB. Leset ihr nicht auf meiner zürnenden Stirn das Urteil des Allmächtigen, das euch verdammt?
RUBEN. Brüder? Simeon!
JAKOB. Was ihr verbrochen habt? Nagen euch keine Gewissensbisse? Schreckt euch der Name Joseph nicht auf?
RUBEN, LEVI, NAPHTALI, ISASCHAR. Wir sind verloren!
BENJAMIN wirft sich zu Jakobs Füßen. Gnade, Vater! Gnade! Benjamin bittet für sie.
JAKOB nach Benjamin suchend. Benjamin, trenne dich von diesen Bösewichtern! Die Unschuld muß sich nicht mit dem Laster mischen. Komm, Benjamin! Du allein bist mein Blut, du nur bist würdig, von Israel zu stammen.
Nr. 13. Ensemble.
JAKOB.
Stets vermeide sie, stets vermeide sie, diese Brut!
Verworf’ne! Verworf’ne! Ihr konntet euch erlauben,
Mir meinen Sohn zu rauben!
NAPHTALI.
Verzeihung, teurer Vater!
RUBEN.
Verzeihung, teurer Vater!
SIMEON.
Verzeihung, teurer Vater!
ALLE BRÜDER.
Verzeihung, teurer Vater!
Zitternd umfassen wir deine Knie!
BENJAMIN.
O Vater, verzeihe! Gebeugt bereuen sie!
ALLE BRÜDER.
Zitternd umfassen wir deine Knie!
BENJAMIN.
O Vater, verzeihe! Gebeugt bereuen sie.
JAKOB.
Des Vaters Herz habt ihr zerrissen!
Brudermord befleckt eure Gewissen,
Kann ich jemals das euch verzeihn?
SIMEON.
Nur ich bin strafbar, mein Vergehn
Verdient mit Recht des Vaters Zorn.
JAKOB.
Nein, nein! Ich verzeihe nicht.
Joseph kommt von rechts hinten.
Siebenter Auftritt.
Die Vorigen. Joseph tritt zwischen Benjamin und Jakob.
RUBEN zu Joseph.
O Herr, unterstütz‘ unser Flehen,
Besänft’ge des Vaters Zorn!
DIE BRÜDER.
Unterstütz‘ unser Flehen, unterstütz‘ unser Flehen!
SIMEON.
Die Schuld – die Schuld ist mein, ich bin der Thäter,
Mich treffe nur allein dein Zorn.
DIE BRÜDER bewegen sich um die Mittelgruppe.
Uns treffe dein gerechter Zorn!
SIMEON.
Die Schuld ist mein, ich bin der Thäter!
JAKOB.
Meidet meinen Anblick, flieht, ihr Verräter!
Nein, niemals verzeiht euch mein Herz!
DIE BRÜDER.
Verzeihe uns!
JAKOB.
Lasset mich!
DIE BRÜDER.
Verzeihe uns!
JAKOB.
Fort von mir!
DIE BRÜDER.
Verzeihe uns!
JAKOB.
Fort von mir, denn euer Anblick ist mir verhaßt!
Hinweg, hinweg! Entweicht meinem Zorn! Hinweg, hinweg!
DIE BRÜDER.
Verzeihe uns, hör‘ unser Flehn!
Still‘ deinen Schmerz, still‘ deinen Schmerz! – Höre!
JAKOB.
Sonst trifft euch mein Fluch!
DIE BRÜDER.
O halt ein, o halt ein!
JOSEPH.
O laß dich erbitten, fluche deinen Kindern nicht.
JAKOB.
Noch kennst du nicht ihr ganz Verbrechen,
Ihr Herz verkannte Bruderpflicht!
JOSEPH.
Wenn Gott der Herr, nach seiner Gnade,
Dem Sünder, dem Sünder, der bereut, kann verzeihn:
Will Jakob seinen Kindern fluchen,
Die ihre Missethat bereu’n?
JAKOB.
Wär‘ ich gewiß, daß sie bereuen, o Gott!
O Gott! Ich fühl‘, mir bricht das Herz!
Ich sagte gern, ich will verzeihen,
Beruhigt euch, stillt euren Schmerz!
DIE BRÜDER.
Der Hoffnung wollen wir uns freuen,
Es werde noch erweicht sein Herz.
JOSEPH.
Ich bin versöhnt, da sie bereuen;
Ihr Unglück rührt, erweicht mein Herz.
DIE BRÜDER.
Er wird den Reuigen verzeihen,
Und rühren wird ihn unser Schmerz.
JOSEPH.
Ich bin versöhnt, da sie bereuen!
Zu den Brüdern.
Beruhigt euch, stillt euren Schmerz!
Ich bin versöhnt, da sie bereuen,
Ihr Unglück rührt, erweicht mein Herz!
JAKOB.
Ich bin versöhnt, da sie bereuen!
Zu den Brüdern.
Beruhigt euch und stillt euren Schmerz.
DIE BRÜDER.
Mir sagt mein Herz, er wird verzeihen
Und rühren wird ihn unser Schmerz!
Benjamin tritt unauffällig Jakob zur Linken.
JAKOB spricht zu Joseph. Herr, was verlangst du von mir? Wenn du ihre Greuelthat kenntest –
BENJAMIN. Sie sind strafbar, aber sie sind deine Kinder.
JAKOB. Die Gottlosen haben Joseph, meinen Sohn, ihren Bruder, verkauft.
RUBEN. Unsere Gewissensbisse drücken härter als dein Schmerz.
SIMEON. Gern gäbe ich mein Blut, ihn auszulösen.
RUBEN sich nach links hinten wendend. In dieses Land hat man ihn geführt –
NAPHTALI ebenso. Wir wollen ganz Egypten durchwandern, und wenn wir ihn auffinden –
RUBEN. Dann wollen wir uns vor ihm demütigen.
SIMEON. Hingestreckt im Staube will ich –
RUBEN. Wir lösen seine Fesseln.
SIMEON. Meine strafbaren Hände will ich damit belasten.
NAPHTALI. Wir alle wollen uns als Sklaven darbieten, um ihn in deine Arme zurückführen zu können.
DIE BRÜDER. Wir alle! Sie wollen nach links hinten hinaus.
JOSEPH lebhaft. Bleibt, Söhne Jakobs! Eure Herzen fühlen Reue, ihr sucht euren Bruder, ihr wollt seine Fesseln tragen. Wohlan! Ihr werdet ihn wiederfinden.
Alle kehren zurück.
ISASCHAR, RUBEN, NAPHTALI. Herr, dürfen wir hoffen?
JAKOB. Mein Sohn, mein geliebter Sohn, würde mir wiedergegeben?
SIMEON. Wie hassenswürdig müssen wir ihm sein!
JOSEPH. Dem ungeachtet liebt er euch.
SIMEON. Mit Abscheu wird er uns wiedersehen.
JOSEPH. Alles hat er euch vergeben.
JAKOB. O wie verlangt mein Herz nach ihm! Herr, leite meine Schritte; führe mich in seine Arme!
JOSEPH. Beruhige dich, ehrwürdiger Greis!
JAKOB. Belehre mich über sein Schicksal.
JOSEPH. Es ist glänzend – und in diesem Augenblicke das glücklichste!
JAKOB. Er ist also nicht Sklave mehr?
JOSEPH. Der König würdigt ihn seiner besonderen Gunst. Bei seinem Anblick wirft sich das Volk in den Staub.
JAKOB. Diese Stimme, wie mächtig dringt sie in mein Herz! Welche Regungen! Herr, habe Mitleiden mit diesem Vaterherzen, das sich so unaussprechlich nach seinem Sohne sehnt!
JOSEPH mit dem höchsten Ausdruck der Leidenschaft. Vater! Er liegt zu deinen Füßen! Knieend. Ich bin Joseph!
ALLE BRÜDER fallen nieder. Joseph!
JOSEPH. Ja, Joseph ist es, der dich um Gnade für seine Brüder fleht!
Jakob zieht Joseph empor und schließt ihn in seine Arme.
JAKOB. Joseph, mein geliebter Sohn! Dich drücke ich an mein Herz! Gelobt seist du, Gott Israels! Wie gnädig warst du deinem Knecht, als du ihm nach Egypten zu ziehen befahlst. Deine Verheißung ist erfüllt. Hier enden sich meine Leiden.
BENJAMIN. Gott der Gnade!
JOSEPH nachdem er Simeon aufgehoben und umarmt hat. Steht auf, meine Brüder! Jakob verzeiht euch.
Alle Brüder erheben sich.
JOSEPH zu Jakob. Vater, du wirst unter deinen Kindern leben. Pharao weiß, daß ich so glücklich war, dich wiederzufinden. Die Anschläge meiner Feinde sind vernichtet. Dir bewilligt er das Land Gosen zur Wohnung. Dort können die Kinder Israels in Frieden dem Gott ihrer Väter Lob- und Dankaltäre errichten.
Der Offizier kommt mit der Leibwache von rechts hinten und nimmt im Hintergrunde Aufstellung.
Egyptische Großwürdenträger nähern sich, von eben daher kommend, in ehrerbietiger Haltung.
Sklaven nahen zuletzt von rechts hinten mit kostbaren Geschenken, Stoffen, Gefäßen mit Brot und Getränken.
Achter Auftritt.
Die Vorigen. Großwürdenträger. Der Offizier. Leibwachen. Sklaven.
Nr. 14a. Schlußchor.
JOSEPH, JAKOB, DIE BRÜDER.
Gott! wie so weise führst du die Deinen
Auf dunkeln Wegen endlich zum Glück.
JAKOB.
Ich habe meinen Sohn gefunden!
JOSEPH.
Vergessen ist, was vorgegangen!
SIMEON.
All meine Qual ist jetzt geendet!
JAKOB, JOSEPH, DIE BRÜDER.
Lob dir, o Herr! Lob dir, o Herr!
Preis deinem Namen! Preis deinem Namen!
Gott, wie weise führst du uns nicht
Auf dunklen Wegen endlich zum Glück!
Nr. 14b. Nachkomponierter Schlußgesang von Ferdinand Fränzl.
Kavatine.
JOSEPH.
Vergessen ist, was vorgegangen;
Sei ruhig, sei ruhig, geliebter Simeon!
Um Seelenfrieden zu erlangen,
Vergab dir Vater Jakob schon.
Verbanne deinen Gram und Schmerz
Er tritt zu Simeon.
Und komm an deines Bruders Herz!
Er umarmt ihn.
Recitativ.
JOSEPH die Mitte nehmend.
Wir sind vereint, Jehovah sei gepriesen!
Zu eurer Rettung wurde ich
In dieses Land verkauft.
Ihr werdet hier im Überflusse leben.
Auf die näher kommenden Sklaven zeigend.
Seht, seht! welche Schätze euch
Des Königs Huld bestimmt!
CHOR DER EGYPTER.
Pharaos Großmut hat die Geschenke
Israels Söhnen gnädigst bestimmt.
Groß ist die Huld unsers Monarchen!
Pharaos Großmut hat die Geschenke
Euch gnädigst bestimmt!
CHOR DER SÖHNE JAKOBS.
Gott, wie so weise führst du die Deinen
Auf dunklen Wegen endlich zum Glück!
Lob dir, o Herr! Preis deinem Namen!
Joseph steht in Jakobs Armen, Benjamin zu seiner Linken die Hand reichend.
Simeon kniet vor Joseph und küßt sein Gewand.
Jakob legt seine rechte Hand verzeihend auf Simeons Haupt.
Die Brüder stehen in Gruppen rechts und links und richten befriedigt ihre Blicke auf Joseph.
Die Großwürdenträger und Egypter füllen den Mittelgrund.
Die Sklaven mit den Geschenken stehen hinter ihnen.
Die Leibwache im Hintergrund.
Ende.