Die toten Augen
Hans Heinrich Ewers / Marc Henry
Eine Bühnendichtung 3 Akte
5. März 1916 Dresden, Hofoper
Musik von Eugen d'Albert

VORSPIEL

Die Bühne stellt eine hügelige, helle Landschaft dar; felsig, hie und da Gras.
Der Hügel geht rechts hinten weiter hinauf. Weiter Horizont.
Links Schafherde, kleine Schäferhütte, davor drei aneinandergestellte Gabelstücke, von denen ein Topf herabhängt. Darunter Holzkohlen, noch nicht angebrannt.
Es ist Abend. Der Hirt steht etwas hinten, schaut ins Land hinaus.

DIE SCHNITTER
hinter der Szene
Wir schnitten die Halme
Und lasen die Ähren
Und banden die Garben –
Durch den heissen, den langen Sommertag.
Wir schritten und schnitten,
Wir mühten uns, knieten,
Wir lasen und banden
Durch den langen, den bangen Sommertag.

DER HIRT
Die Schnitter ziehen heim.
Er kommt nach vorne, geht zur Feuerstelle, mit der er sich beschäftigt.

DIE SCHNITTER
hinter der Szene
Wir rechten die Steine
Und klopften die Sicheln
Und schwangen die Sensen –
Durch den heissen, den langen Sommertag.
Und müder die Glieder,
Den Rücken vom Bücken
Gebeugt, ziehen heim wir
Nach dem langen, dem bangen Sommertag.

DER HIRT
Der Abend fällt – zum Dorfe zieht der Mäher Schar.
Die Hürde öffne ich für meiner Herde Ruh.
Er tut es.
Bald bringt die Schäflein her der Hirtenknab.
Von hinten links kommt ein Schnitter.

DER SCHNITTER
Gruss dir, Hirte!

DER HIRT
Willkommen! Willst du rasten bei mir?
Gleich flammen die Scheite!

DER SCHNITTER
setzt sich zu dem Hirten
Ich danke dir –

DER HIRT
mit dem Feuer beschäftigt
Was fehlt dir, emsiger Mäher, dass du zurückbleibst?
Nicht heim ziehst zum Dorf mit den Freunden?

DER SCHNITTER
seufzt
Kummer und Sehnsucht – –

DER HIRT
Kummer?

DER SCHNITTER
Traf dich nie ein Verlangen nach einem, das entfernt war?

DER HIRT
Nie! Zufrieden bin ich mit meiner Herde! –
Was kümmert mich Fremdes?

DER SCHNITTER
Traf es dich nie – unruhig die Nacht vor Liebe zu wachen?

DER HIRT
Nie! Fern von den Menschen verbring ich meine Tage,
wenig weiss ich von ihrem Sehnen und Trachten! –
Bleibe, Freund, wenn dein Herz sich quält – hier findest du Frieden!

Er nimmt seine Flöte und präludiert. Dann singt er:

Die Sonne sinkt – –
Heimwärts zieht meine Herde.
Lämmlein und Böcklein zur Hürde dringt,
Im Schlummer wiegt sich die alte Erde.

Ziehen zum Morgen wir aus auf die Weide,
Da bellt mein Hündelein stolz.
Schäflein trottet in wollenem Kleide
Über die Hügel, über die Heide
Lockt meine Flöte aus Holz.

Ziehen wir heimwärts über die Raine
Da bellt mein Hündelein stolz.
Schäflein trottet im Abendscheine
Dass in der Hürde die Herde sich eine,
Lockt meine Flöte aus Holz.

Die Sonne sinkt – –
Heimwärts zieht meine Herde.
Lämmlein und Böcklein zur Hürde dringt,
Im Schlummer wiegt sich die alte Erde.

DER SCHNITTER
Glücklich bist du, mein Freund!
Wie neid ich dir deiner Seele Frieden!

Von hinten rechts, die Hügel hinab kommt der Hirtenknabe mit der Herde, um die Schafe herum läuft der Schäferhund.

DER HIRT
steht auf, geht der Herde entgegen
Da, sieh nur die prächtige Schar!
Sieh meinen Widder, sehnig und stark, zieht er voran!
Leitet sein Volk! – Sieh meine Schafe,
wie sie schwer in der Wolle schreiten!
Sieh meine Lämmlein, die sich zärtlich an ihre Mutter drängen!
Sieh da! – Wie das Böcklein springt!

DER SCHNITTER
Schön ist deine Herdel

DER HIRT
zum Hirtenknaben
Warst du am Bach? Hast du die Tiere getränkt?

DER HIRTENKNABE
Ja – sie tranken genug.
die Herde geht hinüber zu der Hürde links, begleitet von dem Schäferhund.

DER HIRT
So komm, Knabe, setz dich zum Mahl!
Er geht zurück zum Feuer, setzt sich.

DER HIRTENKNABE
bleibt stehen, rührt sich nicht

DER HIRT
zum Schnitter
Hier, Freund, greif zu! –
Da der Hirtenknabe nicht kommt, zu diesem
– Nun, was zögerst du noch?

DER HIRTENKNABE
ängstlich
Ich – ich – –

DER HIRT
Nun, was ist es? Komm her!

DER HIRTENKNABE
kommt näher
Dort oben, Schäfer – –
Er stockt

DER HIRT
So sprich doch, Knabe!

DER HIRTENKNABE
Ich – – ich –
er fasst sich ein Herz
Ein Lämmlein fehlt!

DER HIRT
springt auf
Fehlt? Fehlt? – – Ist es tot?

DER HIRTENKNABE
Ich weiss nicht. – Das kleinste war es, du kecke –
wie Schlehdorn so weiss – –

DER HIRT
Und was geschah?

DER HIRTENKNABE
ganz verängstigt
Ich weiss nicht. –
Noch zum Mittag sah ich es, dicht bei der Mutter –
doch wie ich sie zählte, am Bache – am Abend –
da war es fort – –

DER HIRT
Schlechter Knabe! Was suchtest du nicht?

DER HIRTENKNABE
Ich hab es gesucht! Ich hab es gesucht! –
Überall hab ich gesucht! – Doch ich fand es nicht!
Er schluchzt.

DER HIRT
wendet sich ab
Mein Lämpchen! Mein kleines Lämmchen!

DER SCHNITTER
Ein kleines Lämpchen! Was klagst du, Hirte?
Hast doch so viele!

DER HIRT
Viele andere – doch dieses eine nicht!
Er setzt sich, stützt den Kopf in die Hände.

DER SCHNITTER
Komm, setz dich und iss! Es wird sich schon finden!

DER HIRT
Ich mag nicht essen.

DER SCHNITTER
Zwei Suse gilt's im Kauf! – Hier Freund, ich zahl sie dir.

DER HIRT
Es ist mir nicht ums Geld! Behalt dein Geld.
Mein Lämmchen irrt in dunkler Nacht unmher
und schreit und schreit.
Nach seiner Mutter schreit's,
und schreit nach mir in grosser Angst!
Vielleicht reisst es der Wolf –
vielleicht schlingt es der Abgrund ein.
Mein Lämmchen, mein armes Lämmchen!

DER SCHNITTER
Hirt, Hirt! –
Begreifst du meinen Kummer nun und meine Sehnsucht?

DER HIRT
Sehnsucht?

DER SCHNITTER
Ich fragte: „Traf nie dich ein Verlangen nach einem, das entfernt war?“ –
Du sagtest: „Nein!“

DER HIRT
still
Ich – sagte – „nein“ – – –

DER SCHNITTER
Nun, Hirt!

DER HIRT
spring auf, zum Hirtenknaben
Mein Mantel! – – Mein Stab! – –
Der Knabe reicht die Sachen.

DER SCHNITTER
Was willst du tun?

DER HIRT
Das Schäflein suchen!

DER SCHNITTER
Jetzt – zur Nacht?

DER HIRT
Jetzt!

DER SCHNITTER
Säume doch! Iss dein Mahl!

DER HIRT
Nein! – – – – Nein!
Er rafft seinen Mantel, fasst den Hirtenstab fest

Gestern noch kannt ich es kaum,
Ein Lämmlein gleicht ja dem andern!
Nun irrt es einsam in weitem Raum.
Da muss ich wandern.

Vom Lämmlein singt mir der Wind;
Überall, was ich auch tue,
Denk ich an mein verlorenes Kind.
Wo fand ich Ruhe?

Über Fels und über Stein
Folg ich der Spur des verirrten,
Das ängstlich mit wehem Jammerschrein
Sucht seinen Hirten.
Wenn's Vöglein vom Neste fällt,
Bringt ihm die Alte das Futter –
Für meine Schäfchen bin ich bestellt,
Als ihre Mutter!
während des Liedes ist der Hirt höher und höher gestiegen,
dazwischen klingt seine lockende Flöte.
Er steigt dann in die Felsen, seine Stimme verklingt:

Für meine Schäfchen bin ich bestellt
Als ihre Mutter.

Man hört noch des Hirten Flöte.
Vorne stehen Schnitter und Hirtenknabe, ihm nachsehend.


HANDLUNG

Die Szene zeigt einen Platz mit einem Brunnen, vor einem römischen Landhause ausserhalb Jerusalems; Ölbäume, einige Palmen. Im Hintergrunde die Zinnen Jerusalems.
Zeit: Palmsonntag; die Handlung beginnt bei Sonnenaufgang, endet bei Sonnenuntergang.

CHARAKTERISTIK DER PERSONEN:
Arcesius
Äusserlich sehr hässlich, hinkend, da ein Bein zu kurz. Eine Schulter ein wenig zu hoch, unansehnlich, hässlich im Gesicht, bartlos, schwarzhaarig. Innerlich gut, edel, voll heisser Liebe zu Myrtocle. Hochgebildet, leidenschaftlich heiss im Temperament.

Myrtocle
Griechin aus Korinth, braunlockig, zart, wunderschön. Sie ist blind. Zärtlich, sanft, aber auch wieder zu. tragischer Grösse fähig.

Aurelius Galba
Centurio, wie Arcesius ein Aristokrat. Jung, sehr wohlgewachsen, strahlend; er leidet unter seiner stillen Liebe zu Myrtocle.

Arsinoe
Inselgriechin. Hübsch, lebhaft. Im Verhältnis zu Myrtocle ebensosehr Freundin wie Dienerin.

Maria von Magdala
Die grosse reuige Sünderin. In blauem Gewande, goldblonden Locken, wie auf dem Bilde des Rubens. Sie ist aus besserem Hause, war reich usw.; sie hebt sich in allem aus dem jüdischen Volke heraus. Ihre Liebe zu Jesus ist überaus warm und glühend.

Ktesiphar
Wunderarzt, ägyptische Physiognomie, schwarzer Spitzbart, rasierter Schädel. Skurrile Erscheinung, halb komisch, halb grausig.

Die jüdischen Frauen:
Rebekka
Junge Frau, gut gewachsen, hübsch; oberflächlich leicht, skeptisch.:
Ruth
Sehr alt, gütig; sie ist sich ihrer Autorität bewusst.
Sarah
Junges Mädchen, gläubig.
Esther
Frau in mittlerem Alter, gläubig.


ERSTE SZENE
Morgendämmerung. Die jüdischen Frauen kommen zum Brunnen. Rebekka, Esther, Sarah.
Sie tragen Krüge, lassen den Eimer herab, holen Wasser.

SARAH
Heut ist der Tag – –

REBEKKA
Welcher Tag?

SARAH
Der langersehnte!

REBEKKA
lachend
Ach was! Wie alle andern wird er sein!

SARAH
Weisst du denn nicht, was uns verkündet ward?

ESTHER
Einziehen wird der Prophet in seine Stadt!

SARAH
Palmen wird man ihm streuen!

REBEKKA
Und alles wird sein wie es vorher war.

SARAH
Nein! Nein! Er wird uns erlösen!

ESTHER
Befreien! – der Heiland!

SARAH
Auf ihn wartet das Volk. Viele Wunder tat er.

REBEKKA
Wunder? Wer hat sie gesehn?

ESTHER
Jedermann – draussen im Lande!

REBEKKA
höhnisch
Bah – Leute aus Galiläa!

SARAH
Er ist uns geweissagt.
Glaubst du nicht, Rebekka, an der Propheten Wort?

REBEKKA
Glauben? Isaschar, mein Mann, lacht darüber!
Wann half uns je ein Prophet aus unserem Elend?

ESTHER
Der Mann aus Nazareth tut es!
Tote erweckt er zum Leben!

REBEKKA
lachend
Tote?

RUTH
kommt zum Brunnen

SARAH
auf sie zu
O Ruth, du bist alt und weisst vieles!
Sag der Ungläubigen, dass Jesus einem Toten das Leben gab!

RUTH
Wahr ist's. Lazarus hiess der Mann!
Jesus von Nazareth berührte seine Stirne,
da stand er auf vom Totenbett.

REBEKKA
War Lazarus reich, glücklich, froh?

RUTH
Nein, er war elend und arm, krank und gebeugt.

REBEKKA
Wenn es so war – warum ihn aufwecken zu des Lebens Qual?

RUTH
Lästre nicht, Rebekka! – Gottes Ratschluss war es,
der seine Kraft dem Propheten lieh.

ZWEITE SZENE
Arsinoe kommt aus dem römischen Hause, eine Amphora auf der Schulter.
Die jüdischen Frauen ziehen sieh ein wenig zurück, nur die alte Ruth bleibt dicht am Brunnen.

SARAH
Die Sklavin der Griechin –

ESTHER
Arsinoe.

ARSINOE
freundlich auf die alte Ruth zu, ist ihr behilflich, den Eimer hochzuziehen
Guten Morgen, alte Ruth, ich will dir helfen.

RUTH
Dank dir, Griechin. – Wie geht es deiner schönen Herrin?

ARSINOE
Schön ist Myrtocle, mächtig und reich,
und ist geliebt von dem besten Gatten.
Und doch ist sie traurig in ewiger Blindheit!

SARAH
O wie viele Frauen möchten mit der schönen Griechin tauschen!

ARSINOE
Was nützt alle Schönheit, wenn nicht ein Spiegel sie zurückwirft?
Was nützt es, geliebt zu werden,
wenn man es nicht lesen kann aus des Geliebten Augen?

REBEKKA
lachend
Ein schöner Geliebter, der Griechin Gatte!

SARAH
Mit schiefer Schulter –

ESTHER
Hinkend und krumm!

Sie gehen langsam mit ihren Krügen ab.

ARSINOE
zu Ruth, fortfahrend
Wie oft fleht die Herrin zu den Göttern,
aber sie liessen sie in ewiger Dunkelheit.

RUTH
fasst Arsinoe an der Schulter, geheimnisvoll
Eure Götter! Aber ich sage dir, Kind:
Heute wird einer einziehen in Jerusalem,
der macht gehend die Lahmen und die Blinden sehend!

ARSINOE
aufhorchend
Die Blinden sehend?

RUTH
Und gehend die Lahmen!
Heut erwartet ihn das Volk in seiner Stadt.
Hosianna werden sie rufen, dem Sohne Davids.

ARSINOE
Wie heisst er?

RUTH
Jesus aus Nazareth.

ARSINOE
Jesus – was ist das für ein Mann? Ist er ein Arzt?

RUTH
wendet sich zum Gehen
Er ist ein Mensch, der Mitleid hat mit andern Menschen.

ARSINOE
nimmt ihre gefüllte Amphora auf die Schulter
Jesus aus Nazareth – der Mitleid hat –
der die Blinden sehend macht –
– ich will es der Herrin sagen.
Sie geht zurück in das Haus.

DRITTE SZENE
Die Sonne ist inzwischen höher gestiegen, die Dämmerung gewichen.
Auf dem Peristyl erscheinen, während Arsinoe abgeht,
Arcesius und Myrtocle zwischen den Säulen.
Arcesius führt die Blinde mit liebender Sorgfalt zur Treppe.

MYRTOCLE
Die Sonne ging auf.
Rosige Lichter fühle ich flirren über meinen toten Augen.

ARCESIUS
Myrtocle, Myrtocle, geliebtes Weib!

MYRTOCLE
Deiner Stimme Klang hüllt mich ein
wie ein warmer Regen im Mai!

ARCESIUS
Myrtocle, Myrtocle, geliebtes Weib!
Er zieht sie an sich.

MYRTOCLE
Deiner Finger Druck hüllt mich ein,
wie ein weicher Mantel beim Bad.

ARCESIUS
Halt‘ ich doch, was mir das Liebste ist auf der Welt!
So schön ist die Erde, so schön ist der junge Tag,
so schön der Himmel in der Sonne Licht!.
Aber schöner als alles, Myrtocle, bist du!

MYRTOCLE
Schön ist die Erde, schön ist der Himmel und der junge Tag! –
Ach, wenn nur einmal meine Augen sehen könnten alle die Schönheit!

ARCESIUS
Siehst du sie nicht mit meinen Augen, Geliebte?

MYRTOCLE
zärtlich
O ja, ich sehe sie! Du lehrtest es mich. –
Ich höre alle Schönheit aus deinem Munde,
ich fühle sie mit deinen guten Händen.
Und nur eines, eines möchte ich sehen – –

ARCESIUS
Was ist es?

MYRTOCLE
Dich, o Geliebter, dich!
O einmal nur, nur ein einziges Mal!

ARCESIUS
verbirgt seinen Schreck
Du süsse Frau!

MYRTOCLE
Weisst du noch, mein Herr, wie du mich am Strande fandest?
In Korinth unter den Ölbäumen?
Ein armes, unwissendes, blindes Mädchen.
Da erzähltest du mir ein Märchen.

ARCESIUS
Welch ein Märchen?

MYRTOCLE
Das Märchen von Amor und Psyche!
Nie, nie will ich es vergessen.

Psyche wandelt durch Säulenhallen.
Süsse Klänge und Sänge schallen,
Rosen duften aus goldenen Schalen,
Reiche Schätze prunken und prahlen.
Arme kleine Psyche!

Nächtens fühlt sie des Gatten Küsse
Schier, als ob sie vergehen müsse,
Hört seine Stimme in süssem Entzücken,
Nie aber darf sie den Liebsten erblicken.
Arme kleine Psyche!

Und mit kleiner Lampe verstohlen.
Schleicht sie zu ihm auf stillen Sohlen,
Sieht den Schönsten durch selige Stunden,
Amor, den Gott – da ist er entschwunden.
Arme kleine Psyche!

ARCESIUS
O Myrtocle, du bist schöner als Psyche noch!

MYRTOCLE
Du aber, mein geliebter Herr,
bist schöner wie Amor, der Gott!
Wenn ich träume in stillen Stunden,
dann sehe ich mich vor deinem Lager knien,
die kleine Lampe in der Hand.
Und mein Auge lebt und trinkt
die göttliche Schönheit deines Schlummers!
In der Haare Gold hüllt sich dein edles Haupt,
deine duftenden Locken fallen über die Wangen,
Über den weissen Nacken und verbreiten einen solchen Glanz,
dass der Lampe Licht davor erbleicht!
Weiss, glänzend, über alles schön ist dein herrlicher Leib!

ARCESIUS
O Myrtocle, kein Sterblicher ist so schön wie der Liebe Gott!

MYRTOCLE
Doch! Doch! Doch! – Du bist so schön, bist schöner noch!
Güte und Schönheit sind eins,
kein Mensch auf der Welt ist so gut wie du –
so musst du auch der Schönste sein unter allen Menschen!

ARCESIUS
gequält
O du – –

Sie umhalst ihn, küsst ihn zärtlich.

VIERTE SZENE
Aurelius Galba, der römische Centurio, tritt auf.

AURELIUS GALBA
Gruss dir, Arcesius! Und dir, schöne Myrtocle,
Gruss, meines Freundes Weib!

ARCESIUS
Aurelius Galba! Was bringt dich so früh hierher?

GALBA
Pontius, der Landpfleger entbietet dich zum Rate.

ARCESIUS
Zum Rate? Um diese Stunde?

GALBA
Der Hohepriester der Juden führt eilige Klage.
Ein Fremder zieht ein in Jerusalem, Jesus aus Nazareth;
das Volk glaubt, dass er der versprochne Prophet,
die Priester nennen ihn einen schlimmen Volksverführer –
wir müssen richten.

MYRTOCLE
Geht voran, edler Galba! –
Lasst mir den Gatten noch einen Augenblick,
nur zum Abschiednehmen.

ARCESIUS
zu Galba, der sich zum Gehen wendet
Weisst du doch nicht, mein Freund, wie es schmerzt,
sich von der Geliebten zu trennen – auch auf kurze Stunden nur.

GALBA
halb für sich, mit glühendem Blick auf Myrtocle
Weiss ich es nicht? –
Doch ich weiss gut, wie es schmerzt, Unerreichbares zu lieben! –
zu Arcesius
Nimm Abschied, mein Freund, du dreimal Glücklicher! –
Beim Rate erwart‘ ich dich!

Galba ab.

FÜNFTE SZENE

MYRTOCLE
zu Arcesius
Komm, komm, Geliebter, leih mir deinen Arm! –
Wie unwillkommen ist mir doch dein Freund – der dich mir stiehlt!

ARCESIUS
O schilt ihn nicht! Ich glaube, er leidet viel –

MYRTOCLE
Er leidet? Galba leidet – ?

ARCESIUS
Er liebt dich, Myrtocle.

MYRTOCLE
Galba – mich?

ARCESIUS
Fühlst du es nicht?
Glaubst du, dass ich der einzige bin, der deine Schönheit sieht?

MYRTOCLE
Der einzige gewiss, für den sie blüht – für dich allein.

ARCESIUS
umfasst sie zärtlich
Für mich – für mich! – Ja, dreimal glücklich bin ich! –
Seit jenem Sonnentag, als ich dich fand! – In dir ruht all mein Glück!

MYRTOCLE
Und so, Arcesius, ruht mein Glück in dir!
Und mehr noch, mehr, viel mehr!
Denn nichts lenkt meine toten Augen ab,
und alles das, was dir im Arme ruht,
was leis erbebet unter deinem Kuss – lebt nur für dich!

ARCESIUS
O Myrtocle, dein schöner Leib ist der Altar,
auf dem den ewigen Göttern ich meine Opfer bringe!

MYRTOCLE
So lass dein Opfer durch die Lüfte brennen,
dass sie dich gnädig hören!

ARCESIUS
Der Priester bin ich, der das Heiligtum
zur allerhöchsten Schönheit treulich hütet.

MYRTOCLE
Wie heiss ist deiner Leidenschaften Lied!

ARCESIUS
Wie süss ist deiner Zärtlichkeiten Klang!

MYRTOCLE
Wie hüllt mich deiner Sehnsucht Mantel ein!

ARCESIUS
Wie lockt mich deiner Seele süsser Sang!

MYRTOCLE
Du holder Traum meiner blinden Nacht!

ARCESIUS
Du Göttin, die meinem Leben lacht!

MYRTOCLE
Mein süsser Gatte –

ARCESIUS
Ich liebe dich!

Heisse Umarmung, leidenschaftliche Küsse. Er macht sich sanft los aus ihren Armen.

Geliebte, leb‘ wohl!

MYRTOCLE
Schon willst du gehen?

ARCESIUS
Bald bin ich zurück bei dir.

Noch ein Kuss, dann ab.

MYRTOCLE
Bald – bald – Schon hallen seine Schritte den Hügel hinab. –
Allein bin ich – allein – Wann kommst du? –
Bald – bald! – Mein süsser Gatte – könnt‘ ich nur einmal dich sehen!

SECHSTE SZENE
Arsinoe kommt aus dem Garten, in den Armen einen mächtigen Korb,
bis oben überladen mit vielen bunten Blumen. Sie geht zu Myrtocle hin.

ARSINOE
Herrin –

MYRTOCLE
Bist du's, Arsinoe? –
Viele Blumen bringst du vom Garten her! -Wie sie duften!

Sie öffnet die Arme, wie um sich den Duft herzuwehen

ARSINOE
Hier, liebe Herrin –

MYRTOCLE
nimmt ein paar Blumen, befühlt sie
Das sind Rosen. Welche Farben haben sie?

ARSINOE
Weiss! Wie deine Wangen, schöne Myrtocle.

MYRTOCLE
Und diese hier?

ARSINOE
Die sind rot, wie deine Lippen sind.

MYRTOCLE
greift wieder in den Korb
Das sind Nelken – würzig und frisch:
Und Hyazinthen, viele Hyazinthen –
die duften wie schöner Frauen Leib.

ARSINOE
gibt ihr rote Blüten
Hibiskus, Herrin, rote Hibiskus –

MYRTOCLE
Die trag mir ins Schlafgemach!
Stell sie zu Häupten des Lagers –
da mögen sie schauen meiner Liebe Träume.

ARSINOE
Glückliche Blüten –

MYRTOCLE
Glückliche Blüten –
verträumt
Arsinoe, wo, wo find‘ ich die kleine Lampe,
die meiner Träume Nacht erhellt?

SIEBENTE SZENE
Ktesiphar, ein ägyptischer Wunderarzt, tritt auf,
geht mit vielen Verbeugungen zu den beiden Frauen.

ARSINOE
bemerkt ihn, steht auf
Herrin, da kommt Ktesiphar, der Wunderarzt.

MYRTOCLE
zu Ktesiphar
Was willst du, schlechter Arzt?

KTESIPHAR
Herrin, ein Tränklein bring ich Euch –

MYRTOCLE
Mach fort, fort! Deine Kunst ist schlecht!

KTESIPHAR
Dies Tränklein hier –

MYRTOCLE
Schweig, schweig! – Schick ihn fort, Arsinoe!

KTESIPHAR
So hört doch nur –

ARSINOE
Nein! – Ihr habt uns betrogen!
Erst waren es Pillen, dann eine teure Salbe! –
Aber nichts half, blind ist sie, wie je!

KTESIPHAR
Dies Tränklein hilft!

ARSINOE
Nun soll es ein Tränklein sein!

KTESIPHAR
Es hilft! – Sie wird sehen!

ARSINOE
Geht nur fort!

KTESIPHAR
So hört mich doch nur an! –
In Theben fand man jüngst im Grab der Phto,
Der schönen Tochter König Rampsinits,
Die blind geboren, später sehend ward,
Papyrusrollen, eng mit Gold umschnürt.

ARSINOE
Du lügst!

KTESIPHAR
Nein! Nein! –
Ein Isispriester sandte mir das Blatt,
Ich führt es aus, ich, Ktesiphar, der Arzt!
Drei Tröpfchen Galle einer Zibetkatz,
Drei Kröteneier, eine Maulwurfzung,
Drei Unzen Theriak, fünf Unzen Blut
Des Hippopotamus, dazu das Herz
Des Basilisks! Im Mörser stiess ich es
Und mischt darein das Aug des Wiedehopfs.

ARSINOE
Pfui! Pfui!

KTESIPHAR
fortfahrend
Herrin, versucht es nur!
Nehmt es, wann Vollmond ist,
Benetzt die Lider, trinkt den andern Teil,
Und sehend werdet Ihr den Tag erschaun!

MYRTOCLE
steht auf, einige Schritte auf den Arzt zu, stark
Hört, Ktesiphar! – Ich kauf das Tränklein
und zahl Euch jeden dreimal höchsten Preis – wenn es mir hilft!
Jedoch, versteht mich wohl: ich halt‘ Euch eng verwahrt!
Und hilft es nicht – ruf ich die Sklaven her und lass Euch blenden!
Dann mögt Ihr sehen, wie Euer Trank Euch hilft! –

KTESIPHAR
stotternd
Mächtige Herrin –

MYRTOCLE
Nun? – Geht Ihr den Handel ein??

KTESIPHAR
Herrin – vielleicht – vielleicht –

MYRTOCLE
drängend
Nun?

KTESIPHAR
sich zurückziehend
Vielleicht – versuch ich's erst an einem – blinden – Hunde –

MYRTOCLE
lacht grell auf
Ja, ja, versucht's an einem Hunde!

ACHTE SZENE
Myrtocle setzt sich wieder auf die Treppe, nimmt wieder Blumen auf, kauert sich zu ihr.

MYRTOCLE
Er kann nicht helfen. Niemand kann helfen.
Nie wird meine Sehnsucht gestillt, meine Sehnsucht nach Licht!

ARSINOE
umfasst ihre Knie
O Herrin –

MYRTOCLE
Was?

ARSINOE
Darf ich sprechen?

MYRTOCLE
Sprich, mein Kind!

ARSINOE
Es mag wohl einen geben, der Euch helfen kann!

MYRTOCLE
Mir? – Keiner!

ARSINOE
dringlicher
Am Brunnen heute traf ich die alte Ruth.
Und sie sagte: heute zieht ein Mann ein in Jerusalem,
der macht die Lahmen gehend und sehend die Blinden!

MYRTOCLE
Die Blinden sehend?

ARSINOE
Ja, die Blinden sehend!

MYRTOCLE
Wie heisst er?

ARSINOE
Jesus aus Nazareth –

MYRTOCLE
Jesus? – – Galba, nannte den Namen!

Etwa hier beginnt leise der Lärm und die Bewegung der kommenden Menge hinter der Szene;
Myrtocle und Arsinoe stehen auf, lauschend.

ARSINOE
Hörst du, Herrin, hörst du? – Da naht der Zug –

MYRTOCLE
verfolgt zweifelnd ihre Gedanken
Jesus aus Nazareth – was ist das für ein Mann!
Ein Jude – ein Zauberdoktor? Ein Betrüger – – wie die andem.

ARSINOE
lebhaft
Herrin, Ruth sagt: er sei ein Mensch,
der Mitleid habe mit andern Menschen –

Der Lärm wird stärker, Volk kommt, die Bühne füllt sich.
Myrtocle und Arsinoe etwas höher die Treppen hinauf.

NEUNTE SZENE
Immer voller wird die Bühne, jüdische Frauen, Männer und Kinder treten auf, darunter Kranke und Krüppel; aber nicht auf einmal, sondern im Verlaufe der Szene. Aus dem Hause des Arcesius kommen neugierig Sklaven und Mägde. Man sieht die alte Ruth, auch Rebekka, Sarah und Esther.
Aus dem Volke ragt hervor, in blauem Mantel, mit langen goldenen Locken die Gestalt der Maria Magdalena. Lärmen, Gewoge; viele bringen Palmenzweige. – Es ist gedacht, dass der Zug Jesus‘ auf Jerusalem zu sich hinbewegt und über den Hügel kommen soll.

EIN JUDE
Hier kommt er vorbei!

SARAH
Sie brachen auf von Bethphage.

EIN JUDE
Der Messias kommt –

ESTHER
Sie ziehen den Ölberg hinab.

EIN ANDERER JUDE
Der Prophet aus Nazareth.

EINE SIECHE FRAU
wird von ihren Verwandten auf einer sehr einfachen Sänfte getragen.
Bringt mich nah heran!
Wenn ich nur seines Kleides Saum berühren kann!

SARAH
Er wird dir helfen!

EIN ALTER JUDE
der auf Krücken geht
Wenn er die Hand aufhebt – werf ich die Krücken fort!

RUTH
Die Lahmen gehen!

EIN JUDE
Schafft Palmen her, eilt in die Gärten!

REBEKKA
Es sind des Römers Gärten.

EIN ANDERER JUDE
Was Römer? – Der Sohn Davids kommt!

DER ALTE JUDE
Brecht ihm Palmen!

Einige eilen in die Gärten des Arcesius, Palmen zu brechen, andere kommen mit Palmen.

RUTH
Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

ESTHER
Er hat sein Volk gespeistl

SARAH
Er erlöst uns von allem Leid!

EIN JUDE
Er erweckte des Jairi totes Töchterlein!

EIN ANDERER JUDE
In Jericho machte er zwei Blinde sehend!

ARSINOE
zu Myrtocle
Hört Ihr, hört Ihr, Herrin?

MYRTOCLE
erregt
Ein lichter Strahl fällt in meine dunkle Nacht!

EIN JUDE
Sie kommen, sie kommen!

EIN ANDERER JUDE
Hierher führt ihn der Weg!

Das Volk drängt mehr nach hinten.

SARAH
Sie ziehen ihm entgegen von Jerusalem –

REBEKKA
Da bringen sie eine Eselin.

EIN JUDE
Für den Einzug des Herrn!

RUTH
Wie es geschrieben steht:
„Sieh, dein König kommt zu dir, sanftmütig, er reitet auf einem Esel.“

EIN JUDE
Seht, Leute, seht!

ESTHER
Auf einem Esel zieht er ein –

EIN ALTER JUDE
Nur für die Armen – nur für die Kranken naht er.

Während dieser Worte ist Maria von Magdala aufgetreten.

MARIA VON MAGDALA
Für alle kam der Herr, für alle, die Leiden tragen – ich weiss es wohl!

REBEKKA
Wer ist die Frau ?

EIN ANDERER JUDE
Maria ist es, das Weib aus Magdala.

REBEKKA
Eine Reiche!

SARAH
Die Sünderin –

MARIA VON MAGDALA
Ja, – die Sünderin, die Reue trug! –
Mit Narden salbt‘ ich des Herrn müden Fuss
und trocknete ihn mit meinem Haar. –
Vor ihm kniete ich, da erlöste er mich von allen Sünden.

REBEKKA
Vergibt er auch die Sünden?

MARIA VON MAGDALA
Wer an ihn glaubt, zieht hin von ihm in Frieden.

EIN JUDE
hinten
Sie sind im Tal.

EIN ANDERER JUDE
Sie ziehn hinauf.

MYRTOCLE
zu Arsinoe
Führ mich hinab!

Die beiden kommen langsam die Stufen herab.

ARSINOE
Herrin, wohin?

MYRTOCLE
Ich will zu Jesus –

ARSINOE
zu der Menge
Schafft Platz für Myrtocle, des Arcesius Weib! – Macht Platz!

Unwillig murmelnd machen die Leute Platz.
Als die beiden vor Maria von Magdala stehen, fragt diese die Arsinoe.

MARIA VON MAGDALA
Wohin führst du die schöne Blinde?

MYRTOCLE
Ich will zu Jesus von Nazareth.

MARIA VON MAGDALA
Was willst du von ihm?

MYRTOCLE
Ich will sehen!

EIN JUDE
Die Griechin will zum Propheten!

EIN ANDERER JUDE
Der Sohn Davids kam nicht für die Fremden!

SARAH
Nicht für die Römer!

DER ALTE JUDE
Nicht für die Reichen!

ESTHER
Nur für die armen Juden kam er!

MARIA VON MAGDALA
mit grosser Empfindung
O wie wenig kennt ihr Jesus, ihr Leute aus Jerusalem! –
Für alle Menschen kam er,
für alle, die mühselig und beladen sind!

MYRTOCLE
Auch für mich?

MARIA VON MAGDALA
Auch für dich, schöne Griechin! –
Sag mir, warum willst du sehn?

MYRTOCLE
Vom Isthmus bin ich, von Korinth –
das ist die schönste Stadt der Welt. –
Nur ich allein sah nichts von alledem.
Da lag ich oft am weissen Strand und träumte von dem Licht! –
Ich atmete der Blumen süssen Duft,
ich fühlte aller Lüfte linden Hauch –
doch sah ich nichts! –
Schön ist mein Gatte, und alle ihn erschauen,
nur ich darfs nicht, ich, die ihn heisser liebt als je ein Weib geliebt! –
Und darum will ich sehen!

MARIA VON MAGDALA
Griechin, nicht an den Augen hängt des Lebens Glück!

MYRTOCLE
Führ mich zu ihm, der Wunder tut!
Und heilt er mich, so schlägt gleich hoch der Opfer Rauch
für Zeus und Phoibos und für euren Jehovah.

EIN JUDE
Sie lästert –. hört!

EIN ANDERER JUDE
in gleiches Opfer unserm Gott und Zeus!

EIN JUDE
Lasst sie nicht durch!

ESTHER
Die Fremde!

SARAH
Die Ungläubige!

EIN JUDE
Drängt sie zurück!

EIN ALTER JUDE
Sie darf nicht hin –

Das Volk nimmt eine drohende Haltung an.

MARIA VON MAGDALA
Wer von euch darf es wagen,
sich zwischen diese Frau und Jesus von Nazareth zu stellen?

EIN JUDE
Nur für uns gilt sein Wort!

ESTHER
Nur für der Juden Volk!

SARAH
Wir sind das auserwählte Volk!

EIN ANDERER JUDE
Nur uns ist der Heiland versprochen!

MARIA VON MAGDALA
Des Herrn Sohn fragt nicht nach Land, nach Herkunft,
nicht nach Stand, nach Ansehn. –
Hört, ihr Leute von Jerusalem, was er lehrt:
Ich bin der gute Hirte,
der gute Hirte lasset sein Leben für seine Schafe!
Wer ist unter euch, der hundert Schafe hat
und so er deren eines verliert,
der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste
und hingehe nach dem verlorenen, bis dass er es finde?
Und wenn er es gefunden hat,
so legt er's auf seine Achsel mit Freuden,
und wenn er heimkommt,
ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen:
„Freuet euch mit mir,
denn ich habe mein Schäflein gefunden, das verloren war!“

EIN JUDE
ganz hinten
Jetzt sind sie ganz nahel

EIN ANDERER JUDE
Sie ziehen unten vorbei!

EIN DRITTER JUDE
Sie kommen nicht hier herauf –

SARAH
Eilt ihm entgegen!

ESTHER
Schwingt Palmen!

RUTH
Hosianna dem Herrn! Dem Sohne Davids!
Ergreift eine Palme, geht ab.

DIE MENGE
Hosiannal Hosianna dem Herrn!
Dem Sohne Davids! Hosianna!
Auch hinter der Szene Hosianna und Halleluja-Rufen!
Hosianna in der Höhel

Die Menge drängt nach hinten, den Hügel hinab.
Hinten bleiben einige Männer und Frauen beobachtend stehen und blicken hinab. –
Vorne nur Myrtocle und Arsinoe, mit ihnen Maria von Magdala.

MYRTOCLE
Ich möchte sehn!

MARIA VON MAGDALA
Ich will dich zu ihm führen! – Gedenke doch der Worte:
„Entsagung ist der Leidenden Tugend.“

MYRTOCLE
Entsagung war mein ganzes Leben! – Ich will sehen!

MARIA VON MAGDALA
Du musst verzichten auf dein eigen Glück,
um deiner Nächsten Glück zu retten,
der Nächsten, die du liebst!

MYRTOCLE
Weil ich so heiss den Gatten liebe,
grade darum will ich sehn!

MARIA VON MAGDALA
So will ich dich zu ihm führen, liebe Schwester. –
Er ist gekommen in die Welt, ein Licht,
dass, wer an ihn glaubt, nicht in Finsternis bleibe! –
Glaubst du an ihn?

MYRTOCLE
Ja! – – Wenn Sehnsucht und Hoffnung schon Glaube ist!

Maria von Magdala umfasst Myrtocle, an der andem Seite wird diese von Arsinoe geführt. –
Alle drei gehen langsam nach hinten, dem Volke nach.
Einige der Sklaven und Dienerinnen folgen Myrtocle, andre drängen sich zwischen die wenigen zurückgebliebenen Juden, die im Hintergrunde stehen und von dort hinabblicken.

ZEHNTE SZENE
Man hört draussen noch das Hosianna und Halleluja der Menge.
Die zurückgebliebenen Juden beobachten den Zug des Messias.

EIN JUDE
Da ist er!

EIN ANDERER JUDE
Der, der da! Der auf der Eselin reitet!

EIN DRITTER JUDE
Rings um. ihn sind seine Jünger –

REBEKKA
Zwölf sind es!

EIN JUDE
Seht doch die Leute –

EINE JÜDIN
Sie streuen ihm Palmen – –

ZWEITER JUDE
Und grüne Maien –

REBEKKA
Sie ziehen ihre Kleider aus – –

EINE JÜDIN
Breiten sie vor ihm auf den Weg.

EIN JUDE
Sie jauchzen und schreien!

REBEKKA
Seht, da kommt die Griechin!

ZWEITER JUDE
Lasst sehn, lasst sehn!

EINE JÜDIN
Was tut er?

DRITTER JUDE
Er spricht zu ihr –

REBEKKA
Nun hebt er die Hand –

ERSTER JUDE
Er berührt sie –

EINE JÜDIN
Berührt ihre Augen –

REBEKKA
Heiliger Gott! – Sie sieht, sie sieht!!

ALLE
durcheinander
Sie sieht, sie sieht!! Ein Wunder!! Ein Wunder!!
Von draussen auch ein gewaltiger Aufschrei des Volkes.
„Sie sieht!! Ein Wunder!!“ –
Alle stürzen ab. Die Bühne ist völlig leer.

ELFTE SZENE
Plötzlich tiefe Stille. Und durch diese tiefe Stille klingt hell

EINE STIMME
O Weib, wahrlich, ich sagt dir:
ehe die Sonne zur Neige geht, wirst du mir fluchen!

ZWÖLFTE SZENE
Die Sonne steht senkrecht, es ist voller Mittag.
Hinter der Szene setzt, aber immer mehr sich entfernend, das Jauchzen des Volkes wieder ein. „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt, der da kommt im Namen den Herrn!
Halleluja! Hosianna in der Höhe!“ –
Langsam verklingt der Lärm.

MYRTOCLE
sehend, stürzt auf die Bühne, atemlos. Hinter ihr her kommt Arsinoe
Ein Spiegel!! Ein Spiegel!!

ARSINOE
Gleich, Herrin!

Sie stürzt eilend die Treppe hinauf ins Haus

MYRTOCLE
allein auf der Bühne. Ihre Augen trinken das Licht.
Stummes Spiel. Dann erst beginnt sie.

Licht! Licht! Überall Licht –
Wie schön ist die Erde, wie schön ist der Himmel,
wie schön ist der Tag in der Sonne Schein!
Glück! Glück! Strahlendes Glück!
Und es lacht mir rings die herrliche Welt!

ARSINOE
eilt die Treppe hinab, häIt Myrtocle den Spiegel hin
Der Spiegel, Herrin!

MYRTOCLE
ergreift ihn hastig, nach einer Weile
Schön bin ich, Arsinoe, schönl

ARSINOE
Wunderschön, liebe Herrin!

MYRTOCLE
Rot, rot sind die Lippen –

ARSINOE
Wie die roten Rosen so rot!

MYRTOCLE
Weiss, weiss sind die Wangen –

ARSINOE
Wie die weissen Lilien so weiss!

MYRTOCLE
Braun sind meine Locken!

ARSINOE
Wie die Locken der Echo, der süssen Nymphe!

MYRTOCLE
legt den Spiegel auf den Brunnens Rand, blickt dabei in den Brunnen
Schau, schau! Unten im Wasser – eine Nymphe!

ARSINOE
zum Brunnen
Wo, Herrin, wo?

MYRTOCLE
Da, da! – Guten Tag, schöne Nymphe, dich grüsst Myrtocle!

STIMME AUS DEM BRUNNEN
Myr – to – cle – –

MYRTOCLE
Es ist Echo, die Nymphe Echo!

STIMME AUS DEM BRUNNEN
E – cho!

ARSINOE
O Herrin, es ist dein Bild,
das dir das Wasser zurückwirft wie der Spiegel!
Und deiner Stimme Schall wirft Echo zurück!

MYRTOCLE
vom Brunnen weg, hört der Zikaden Lied
O die Zikaden! Meiner Träume Gespielen!
Nun weiss ich, warum sie singen, die Kinder des Lichts!
Sie umhalst Arsinoe
Alles lebt – Wasser und Bäume –
und meine toten Augen leben – –

ARSINOE
Schöne Herrin, auch in deines Gatten Augen
wirst du dein Bild schau'n –

MYRTOCLE
In seinen Augen? – Wo ist er? Wann kommt er? –
Ich will mich schmücken für ihn –
schön will ich sein für den Geliebten,
wenn in dieser Nacht Eros die Fackeln zündet –

ARSINOE
Schön wie Psyche wirst du sein.

MYRTOCLE
Komm hilf mich kleiden, Arsinoe!
Die kleine Lampe brennt – glücklich ist Psyche!

ARSINOE
will aus Gewohnheit sie führen
Ja, Herrin –

MYRTOCLE
macht sich frei; jubelnd
Myrtocle braucht nicht mehr deine treue Hand – Myrtocle sieht!

Die beiden Frauen die Treppe hinauf, ins Haus.

DREIZEHNTE SZENE
Einen Augenblick ist die Bühne leer, dann kommen langsam, sich unterhaltend, Arcesius und Aurelius Galba.

GALBA
Nun bist du heim bei deinem Glück. – Leb wohl, Arcesius –

ARCESIUS
Auf morgen, Galba.

GALBA
Nein, Freundl Auf morgen nicht, und nicht auf lange Zeit. –
Ich sprach mit Pontius – der willigt ein.
Noch heut reit ich ab nach Damaskus.

ARCESIUS
Nach Damaskus?

GALBA
Nie wieder sieht mich diese Stadt!

ARCESIUS
Was heisst das?

GALBA
Du weisst es, Freund
er ergreift seinen Arm, mit einem Blick auf das Haus
Besser ist's, ich geh – hier sterb ich –

ARCESIUS
Was?

GALBA
An unerfülltem Wunsch – an ungestillter Sehnsucht –

ARCESIUS
Armer Freund – willst du nicht Abschied nehmen von Myrtocle?

GALBA
rasch
Nein – Nein! Bring du ihr Galbas Grüsse!
Und freu‘ dich ihrer, Freund, du Glücklicher!

VIERZEHNTE SZENE

ARSINOE
kommt aus dem Hause; sie eilt auf den Brunnen zu,
auf dessen Rand Myrtocle den Spiegel liegen liess.
Sie ergreift ihn, wendet sich, bemerkt dann erst die beiden.

Arcesius – Herr!

ARCESIUS
lachend
Arsinoe, eitles Ding! – Ein Spiegel!

ARSINOE
Nicht für mich – für meine Herrin!

ARCESIUS
Für Myrtocle?

GALBA
Für Myrtocle?

ARSINOE
Ja, Herr! – Für Myrtocle! – Sie sieht!

ARCESIUS
Was sagst du da? – Sie sieht?! –

ARSINOE
Der jüdische Prophet – sie ging zu ihm –
da hob er seine Hand – sehend ward sie!

GALBA
Ein Wunder!

ARCESIUS
Du lügst!

ARSINOE
Myrtocle sieht!

GALBA
freudig
Myrtocle sieht!!

ARCESIUS
schwer atmend
Myrtocle sieht!!

Ausdruck qualvollsten Schmerzes

MYRTOCLE
ruft von innen
Arsinoe! Arsinoe!

ARCESIUS
fasst sie heftig am Arm, wild
Wenn dir dein Leben lieb ist, sag ihr nichts!

ARSINOE
zitternd
Nein – Herr!

Sie geht furchtsam ab.

FÜNFZEHNTE SZENE

ARCESIUS
Galba! Galba!

GALBA
in Gedanken
Ja –

ARCESIUS
Verstandest du denn nicht? Myrtocle sieht!

GALBA
Freue dich! – Vollkommen ist sie nun!

ARCESIUS
wird immer bitterer, immer verzweifelter
Mich freuen? Ich? Zerschmettert liegt mein Glück!

GALBA
Weil sie den Tag erschaut – sie, die dich liebt?

ARCESIUS
Kurzsichtiger! – Was sieht sie denn?
Mich wird sie sehen, mich, mich! –
Den Mann, den sie so schön sich vorgestellt,
wie nur Apollon war, dem ihre blinde Liebe göttliche Formen gab! –
Und den Mann – mich – wird nun ihr Auge sehen:
entstellt, hinkend, hässlich und missgestalt!

GALBA
Freund –

ARCESIUS
Zu Ende ist der schöne Traum –
ich bin verloren – ich bin vernichtet!

Er stützt sich auf den Brunnenrand, schluchzt, Galba bei ihm.

MYRTOCLE
im Hause, sie singt der Bilitis Lied
Eine kleine Astarte beschützt Mnasidika,
eine kleine Astarte aus Ton. –
In Camiros formte sie ein guter Töpfer. –
Sie ist nur daumengross und aus gelbem Ton.

ARCESIUS
hört ihre Stimme, lauscht
Sie singt – der Bilitis Lied! –
Nun ist sie glücklich, da ihre Augen die Sonne sahen. –
Aber bald sinkt die Sonne –
da wird sie weinen um ihren toten Traum.

MYRTOCLE
singt weiter
Ihre Locken fallen herab, hüllen die schmalen, Schultern. –
Lang geschlitzt sind ihre Augen –
und ihr Mund ist ganz klein.
Denn sie ist die sehr Schöne!

ARCESIUS
weich
Hier, Galba, hier verliess ich sie an diesem Morgen! –
Da träumten ihre toten Augen den süssen Traum,
den ich ihnen schenkte!
O schöne toten Augen – ihr waret das Geheimnis unseres Glücks,
der einzige Grund, auf dem unsere Liebe wuchs.
So liess ich sie!
heftiger
Und da kam ein Fremder – der hob seine Hand! –
Mit einer kleinen Geste zerriss er mein Glück,
zerschlug alle unsre süssen Träume –

MYRTOCLE
singt weiter
O kleine Astarte aus Ton – schick mir den Geliebten!
Mein Lager wartet seiner holden Schönheit –
alle Rosen duften für ihn – send ihn,
send ihn, du Göttin der Liebe!

ARCESIUS
Zu Ende ist das Lied! – Zu Ende unser Glück!

GALBA
Sie liebt dich ja!

ARCESIUS
noch mehr ausbrechend
Liebt mich? Einen Traum liebt sie – nicht mich!
Was tu ich nur? – Sie wird mich sehen –
Und Ekel wird sie fassen! –
Alles stürzt -verloren bin ich, – bin zertreten!

SECHZEHNTE SZENE
Myrtocle, geschmückt, in weissem Peplon, tritt aus dem Haus, zwischen den Säulen des Peristyls. Die Nachmittagssonne beleuchtet sie.
Arcesius sieht sie, versteckt sich, wie ein verwundetes Tier, hinter dem Brunnen.
Galba bleibt in der Mitte stehen. Starrt sie regungslos an.
Myrtocle blickt auf Galba, wortlos. – Eine Weile Schweigen.

MYRTOCLE
Geliebter – Langersehnter!

GALBA
schweigt

MYRTOCLE
Du schweigst – du sagst kein Wort? – Doch hast ja recht!
Die Treppe hinunter auf ihn zu
Sprich nicht!
Wie oft trank ich deiner Stimme Klang in meiner tiefen Nacht! –
Nun, da die Lider offen stehn dem Licht…
nun will ich dich allein f ür meine Augen …

GALBA
macht unwillkürlich einen Schritt zurück

MYRTOCLE
lächelnd
Bist du so gar verwirrt? Kennst du mich nicht?
Schau ich so anders aus, seit ich sehe?
Auf ihn zu.
Doch du, geliebter Herr, du bist ganz so
wie ich dich stets geträumt!
So wie Achill stehst du da; umflutet rings von Licht,
wie Herakles, nein, mehr noch, wie Apoll!
Mein Held, du schöner Halbgott, du mein Gott!

GALBA
macht eine abweichende Bewegung, seine Lippen bewegen sich

MYRTOCLE
küsst seine Hände
Die kleine Lampe brennt, Psyche kann sehn! –
Sie schmückte sich für Amor, ihren Gott!
Immer wärmer, eindringlicher
Herr, geliebter Freund,
in deine Arme drängt mein junger Leib,
nach deinen Küssen sehnt sieh heiss mein Mund.
Sie wirft sich in seine Arme.

GALBA
beisst sich in die Lippen, versucht sie sanft, aber stets schweigend abzuwehren

MYRTOCLE
Wie? Grausamer! Schweigsamer Gatte, stösst du mich zurück? –
Liebtest du mich nur, als ich, ein blindes Kind, noch tastend ging? –
Dicht an ihm – mit grosser Empflndung.
Ich bin ein Weib nun, offen ist mein Blick!
Sie fasst mit beiden Händen seinen Kopf.
Mein Bild spiegelt sich in deinen Augen,
und in dem Auge les ich alles auch,
was mir dein Mund nicht spricht –
Ich lese – dein Verlangen – deinen Wunsch – und alle heisse Liebe – ! –
Liebster, komm!
Sie umarmt ihn glühend, küsst ihn.

GALBA
kann nicht mehr widerstehen.
Mit einem kurzen Schrei reisst er sie an sich und erwidert heiss ihren Kuss.

ARCESIUS
springt mit einem Aufschrei rasender Wut und Verzweiflung hervor.
Er stürzt sich auf Galba, fasst ihn mit beiden Händen an die Kehle
reisst ihn zu Boden, erwürgt ihn.

MYRTOCLE
fährt zurück, entsetzt, keines Wortes, keiner Bewegung fähig.
Starrt auf das grässliche Bild, während Arcesius seine Tat vollendet.

ARCESIUS
lässt endlich die Hände von des Toten Hals, richtet sich halb auf, starrt Myrtocle an.
Schweigen.

MYRTOCLE
heiser, halblaut
Mörder – Tier –

ARCESIUS
steht ganz auf. Geht ein paar Schritte zurück, immer den Blick auf Myrtocle –
Oben auf der Treppe erscheint Arsinoe.

MYRTOCLE
wie oben
Mörder – Tier –

ARCESIUS
geht weiter rückwärts, immer Myrtocle wie gebannt anstarrend. Ab.

SIEBZEHNTE SZENE

Erst als Arcesius aus ihren Augen entschwunden ist,
ist für Myrtocle der Bann der Erstarrung gebrochen;
nun erst findet sie die Kraft zu schreien.

MYRTOCLE
schreit
Mord! Mord! Zu Hilfe! Mord!!

ARSINOE
Ruft die Treppen herunter
Herrin, Herrin!

Vom Garten her und vom Haus stürzen Sklaven und Sklavinnen herbei,
auch einzelne Juden und Jüdinnen von der andern Seite.

MYRTOCLE
fasst Arsinoe
Mord! – Ein Tier erwürgt‘ ihn, eine Bestie!
Mein Gatte ist ermordet – mein Geliebter tot!
Sie stürzt sich jammernd über Galbas Leiche.

ARSINOE
Herrin, liebe Herrin! Hör doch!
Sie bemüht sich um Myrtocle.

MYRTOCLE
Arcesius ist tot, mein Glück ist tot!

ARSINOE
Hör doch, Myrtocle, hör, liebe Herrin! –
Das ist dein Gatte nicht – er ist es nicht! –
Galba ist es, Hauptmann Galba!

MYRTOCLE
fährt auf
Ist nicht Arcesius, ist mein Gatte nicht?
Sie springt ganz auf.
Er – den ich küsste, war Arcesius nicht?

ARSINOE
Nein, nein! Galba ist es!

MYRTOCLE
Träum ich? Schlaf ich? Bin ich wach?? –
– Was sahen meine Augen? – Was sang mein Blut?

ARSINOE
umfasst sie
Kommt, Herrin, kommt ins Haus!

MYRTOCLE
lässt sich einige Schritte willenlos führen.
Fährt plötzlich auf, reisst sich von Arsinoe los, wendet sich zurück.

Was geschah denn nur? –
Sie sieht die Leiche wieder.
Schafft den Toten fort! –
Wo ist Arcesius? Wo bleibt mein Gatte??
zu den Sklaven
Geht in die Stadt, sucht ihn, sucht ihn überall!
Ich muss ihn sehn! Holt ihn! Bringt ihn mir her!

Einige Sklaven ergreifen Galbas Leiche und tragen sie fort.
Die anderen, auch die Frauen und die Juden und Jüdinnen ab, um Arcesius zu suchen.
Die Bühne leert sich, Myrtocle und Arsinoe allein auf der Szene.

ACHTZEHNTE SZENE

MYRTOCLE
starrt vor sich hin, Arsinoe bei ihr. Eine Weile Schweigen.

Was tat ich nur?! – Die Götter straften mich,
da ich den Fremden für den Gatten nahm! –
Mord brachten sie – Entsetzen – Grauen! –
Wo bleibt Arcesius nur? – Warum lässt er mich hier – allein?

ARSINOE
scheu, flehend
Herrin –

MYRTOCLE
Wo weilt mein Gatte? – Warum kommt er nicht?

ARSINOE
O Myrtocle –

MYRTOCLE
Was willst du?

ARSINOE
Ich möchte dir –

MYRTOCLE
So rede nur!

ARSINOE
Mir bangt – ich wag es nicht –

MYRTOCLE
Sprich! Sprich!

ARSINOE
Galba –

MYRTOCLE
Nenn mir den Namen nicht! –
Recht geschah ihm, als ihn das Tier erwürgte! –
Er verriet den Freund! – Und. dann,
dann fühlt‘ ich seines Kusses Glut –
– ah! noch brennen meine Lippen heiss von Scham und Schande –

ARSINOE
Herrin, Myrtocle –

MYRTOCLE
Was willst du denn?

ARSINOE
Galba kam nicht allein –

MYRTOCLE
Ich sah nur ihn –

ARSINOE
Und den, der ihn erwürgte –

MYRTOCLE
Ja – ein widrig Tier –

ARSINOE
O Herrin – Herrin – still! – Es war Arcesius, war dein Mann!

MYRTOCLE
lacht laut auf
Du Närrin! – Dies Untier, das dem Hades selbst entstieg,
dies Ungeheuer, hinkend, missgestalt. – das sei Arcesius?! –
Närrisch bist du!!

ARSINOE
Er war es, Herrin, war Arcesius.
Pause. Schweigen.

MYRTOCLE
Erbarmt euch, grosse Götter!

ARSINOE
Myrtocle –

MYRTOCLE
Schweig! – Kein Wort! –
Amor und Psyche, o verlorener Traum!
So log das Märchen doch:
nicht Amor war's, den Psyches kleine Lampe fand –
ein Ungeheuer war es! Und alles Lüge ringsumher,
in einem Meer von Lügen tappt ich blind! –

ARSINOE
Herrin, Myrtocle –

MYRTOCLE
Schweig doch! – Warum sagtest du nicht,
dass mein Glück nur eine Lüge war?

ARSINOE
Sie war dein ganzes Glück, war des Arcesius Glück!

MYRTOCLE
Und war es so – warum liessest du mich zu dem Manne gehn,
der mir das Licht gab – das mein Glück zerschlug?

ARSINOE
Du flehtest so!

MYRTOCLE
Und dieser Mann erhob die Hand – da sah ich –
und in Scherben lag alles Glück! –
Er sei verflucht! Verflucht!

ARSINOE
Denk nicht an ihn! – Denk an Arcesius!

MYRTOCLE
Nein! Nein!

ARSINOE
sanft
Tu's doch! Ist's seine Schuld, dass du nun siehst?

MYRTOCLE
Lass mich!

ARSINOE
zu ihr
Er liebte dich so sehr! –

MYRTOCLE
leise
Arcesius –

ARSINOE
Zerschlagen ist sein Glück mehr noch wie deins! –
Was er tat, tat alles er für dich!

MYRTOCLE
erinnernd
O wie liebt‘ ich ihn,
als nur mein Ohr trank seiner Stimme Klang!

ARSINOE
Noch ist es nicht zu spät –

MYRTOCLE
träumerisch
Nicht zu spät! –
fester
Lass mich allein, Arsinoe – ich will allein sein!

ARSINOE
Ich gehe, Herrin.

Sie küsst Myrtocles Gewand, geht ins Haus.

NEUNZEHNTE SZENE

MYRTOCLE
bleibt eine Weile regungslos

O war ich noch das unwissende blinde Kind,
an des Isthmos Strand – unter den Olivenbäumen –
Wie war es doch? –
„Man muss verzichten auf das eigne Glück,
um das der anderen zu retten!“ –
Ja – so war es! – Entsagung ist die Tugend der Leidenden –
Sein Glück opfern – sich selbst opfern – für die Nächsten –
das ist des Mannes Lehre, der mir das Licht gab –
Ist nicht Arcesius mein Nächster?
Glücklich war er, glücklich war ich, als ich blind war –
Und alles Unglück brachte das Licht –
Sie wendet sich ab, der scheidenden Sonne entgegen. – Stark.
So möge die Sonne wieder ausbrennen meiner Augen Licht!
Sie geht zurTreppe hinauf, steht vor den Säulen.
Auf sie fällt der strahlenden Sonne volles Licht; sie starrt in die Sonne.

Steht weit offen, meine Augen,
weinet nicht, meine Augen!
Mögen des Phoibos Pfeile euch treffen,
mögen sie euren Stolz versenken in ewige Nacht!
Stummes Spiel, während sie in die Sonne starrt; Unterdrückung des heftigen Schmerzes,
Ausdruck der hingebenden Liebe. – Dann feierlich.

O meine lieben toten Augen –

ZWANZIGSTE SZENE

Während der letzten Worte ist Arcesius von hinten gekommen;
er geht gebrochen, kriechend bis zur Mitte der Bühne.
Sieht Myrtocle oben vor den Säulen stehen, starrt sie an.

ARCESIUS
halblaut, klagend
Myrtocle – Myrtocle –

MYRTOCLE
Endlich – endlich! – Ich höre deine Stimme –
wo bist du – ich sehe dich nicht –

ARCESIUS
schrickt auf
Du siehst mich nicht – du siehst mich nicht?

MYRTOCLE
kommt mit den tastenden Gesten der Blinden ein paar Stufen die Treppe herab;
Arcesius auch ein paar Schritte zu ihr hin

Ich sehe dich nicht – doch höre ich dein Wort.
Und so fein ist mein Ohr, dass deiner Schritte Rhythmus
leise zittert in meinem Herz –

ARCESIUS
Du siehst nicht mehr?

MYRTOCLE
Nein! Ich weiss nicht, wie's geschah –
zur Sonne blickt‘ ich und das Licht erlosch!
Und dankbar bin ich, dass ich wieder blind.

ARCESIUS
Du siehst mich nicht?

MYRTOCLE
Nein – nein! – Nie sah ich dich!

ARCESIUS
Nie? Nie? – Wen sahst du denn?

MYRTOCLE
Ich sah Arsinoe – sah Jesus –

RCESIUS
Sahst du auch – Galba?

MYRTOCLE
Ja, ich sah ihn –

ARCESIUS
Und sahst du den, der ihn überfiel?

MYRTOCLE
Ja, ich sah ihn wohl. – Ich weiss nicht, wer es war.

ARCESIUS
Und mich, mich sahst du nicht?

MYRTOCLE
Nein!
Mit zärtlichster Empfindung.
O warum quälst du mich, geliebter Herr,
du Iris meiner toten Augen, du? –
So viel sah ich, so viel – nur dich allein erblickt‘ ich nicht! –
Und nie werd ich dich sehn! –
Doch will ich weiter leben in der Träume Welt
für dich, geliebter Gatte, für dich allein! –

ARCESIUS
hoffnungsbang
Myrtocle – Myrtocle – geliebtes Weib –

MYRTOCLE
Deiner Stimme Klang hüllt mich ein
wie ein warmer Regen im Mai –

ARCESIUS
auf sie zu, fasst ihren Arm
Myrtocle, Myrtocle, geliebtes Weib –

MYRTOCLE
zitternd
Deiner Finger Druck hüllt mich ein
wie ein weicher Mantel beim Bad –

ARCESIUS
Myrtocle –

Die beiden gehen langsam ins Haus.

EINUNDZWANZIGSTE SZENE

Die Sonne steht sehr tief, geht während der letzten Szene ganz unter.
Abenddämmerung verbreitet sich. Eine Weile ist die Bühne leer.
Dann kommt ein Hirte über die Bühne, in schwarzem Mantel, mit Hirtenstab.
Er trägt ein weisses Lämmlein auf der Achsel und geht ganz langsam über die Bühne.
Die Musik gibt das Motiv der Parabel vom „Verlorenen Schäflein“

in der Erzählung der Maria von Magdala.
„Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schäflein gefunden, das verloren war!“ usw.

Der Vorhang fällt langsam