Giacomo Puccini

Die Bohème

Oper in vier Bildern

Personen

Rudolf, Poet (Tenor)

Schaunard, Musiker (Bariton)

Marcel, Maler (Bariton)

Collin, Philosoph (Baß)

Bernard, der Hausherr (Baß)

Mimi (Sopran)

Musette (Sopran)

Parpignol (Tenor)

Alcindor (Baß)

Sergeant bei der Zollwache (Baß)

Studenten, Näherinnen, Hutmacherinnen, Bürger, Ladenverkäufer und Hausierer; Soldaten, Kellner, Buben und Mädchen etc.

Handlung um 1830 in Paris.

Vorwort des Dichters Murger

»… Regen oder Staub, Frost oder Hundstage, nichts geniert diese tapfern Abenteurer … Ihr Dasein ist täglich ein neuer Geniestreich, ein Rechenexempel, das sie Tag für Tag mathematisch lösen …
Drängt die Not, so sind sie asketische Einsiedler; aber wenn ihre Hände das kleinste Glück erfassen, so erhitzt sich ihre lebhafte Phantasie zu ganz verwünschten Tollheiten; sie lieben die schönsten und jüngsten Weiber, trinken die besten und ältesten Weine, und ihre Fenster sind nicht groß genug, um durch dieselben das Geld wegzuwerfen. Erst dann, wenn das letzte Fünffrankstück ausgegeben ist, kehren sie zur table d’hôte des Zufalls zurück, wo stets ein Plätzchen für sie gedeckt ist. Sie sind Schmuggler aller Kunstgewerbe und jagen ohne Unterlaß das wilde Tier, welches man Fünffrankstück nennt.
Die Bohème hat ihre eigentümliche Sprache, einen Jargon. Ihr Wörterbuch ist die Hölle der Rhetorik und das Himmelreich des Neologismus …
Ein fröhliches, ein schreckliches Dasein!!«

Vorrede der Librettisten

Die Verfasser des Textbuches haben sich, anstatt dem Buch Murgers Schritt für Schritt zu folgen, mehr an seinen substantiellen Inhalt, wie er in Murgers Vorrede sich ausspricht, gehalten, und zwar ebensowohl wegen der Bühnenmöglichkeit wie auch wegen des musikalischen Bedürfnisses. Sie sind bezüglich einiger Charaktere, Personen und lokaler Einzelheiten der Erzählung völlig treu geblieben und auch der szenischen Entwicklung und der Einteilung in verschiedene Bilder folgt das Textbuch der Dichtung Murgers. In den dramatischen und komischen Episoden dagegen arbeiteten die Autoren – mit Recht oder Unrecht – ganz frei, um das vielleicht freieste Buch der neueren Literatur möglichst gut wiedergeben zu können.
In diesem seltsamen Buche, wenngleich die verschiedenartigen Charaktere der einzelnen Personen lebendig, naturgetreu und deutlich hervortreten, kommt es jedoch öfters vor, daß ein und derselbe Charakter verschiedene Namen trägt, sich sozusagen in zwei verschiedenen Personen verkörpert.
Wie könnte man nicht die zarten Gestalten von Mimi und Francine in ein einziges Wesen verschmelzen?
Und wem fällt nicht gleich Francinens Muff ein, wenn er von Mimis Händchen liest: »Weißer noch als jene der Göttin des Müßigganges?«
Die Autoren glaubten einer solchen Identität der Charaktere Rechnung tragen zu müssen. Ihnen dünkte, daß diese zwei fröhlichen, zarten und unglücklichen Geschöpfe in der Bohème nur ein Wesen darstellen, das man anstatt Mimi und Francine das »Ideal« nennen könnte.

G. Giacosa, Luigi Illica
Erstes Bild

»Mimi war ein reizendes Mädchen, welches ganz besonders mit den plastischen und poetischen Idealen Rudolfs harmonieren mußte zweiundzwanzigjährig, klein, zart. Ihr Angesicht war wie die Skizze zu einem aristokratischen Bildnis, ihre Züge von bewundernswürdiger Feinheit …«
»Das Blut der Jugend strömte warm und rot durch die Adern und färbte die Wangen leis rosa auf dem Weiß ihrer durchsichtigen Haut, einem Weiß, das dem der Camelie glich …«
»Die etwas angekränkelte, zarte Schönheit hatte Rudolf bezaubert. Doch was ihn am meisten verliebt machte, waren ihre schönen Hände, die sich weißer erhalten hatten, trotz eigner Führung ihrer Wirtschaft, als jene von müßiggehenden Schönheiten …«

In der Mansarde

Durch ein großes Dachfenster übersieht man eine Menge von Giebeln, Dächern, Kaminen, alles im Schnee. Links im Zimmer ein Kaminofen. Ein Tisch, eine kleine Kommode, ein Bücherschrank, vier Stühle, eine Staffelei und ein Bett. Bücher und Papiere liegen verstreut umher. Auf dem Tische zwei Leuchter. Das Zimmer hat hinten und seitlich eine Türe.

Rudolf und Marcel

Rudolf blickt nachdenklich zum Fenster hinaus; Marcel arbeitet an seinem Bilde: »Der Durchgang durchs Rote Meer«; er friert an den Händen, die er pustend durch seinen Atem zu erwärmen sucht; wegen der großen Kälte wechselt er fortwährend seine Stellungen.

MARCEL.
Naß macht dies Rote Meer
Und steif des Malers Hand.
Wie herbstkalter Regen
Fällt aufs tote Land.

Er entfernt sich etwas von der Staffelei, um sein Bild prüfend zu betrachten.

Rächend mein Leid,
Ersäuf‘ ich Pharao!

Er kehrt an die Arbeit zurück.

Zu Rudolf.

Was machst du?
RUDOLF sich ein klein wenig umdrehend.
Ich starr‘ zum Himmel,
Seh‘, wie aus tausend Essen
Paris den schwarzen Rauch qualmt!

Auf den kalten Kamin weisend.

Und mein‘, daß jener Ofen
Uns hänselt! Statt zu wärmen,
Treibt der Faulpelz ganz nutzlos Müßiggang wie große Herrn!
MARCEL.
Die ihm nötigen Renten, scheint’s,
Zahlt man ihm nicht gern! …
RUDOLF.
Ja, der alberne Wald steckt im Schnee
Samt allem Brennholz …
MARCEL in die Hände blasend.
Hör‘, Rudolf – laß mich dir
Eine große Wahrheit sagen:
’s ist hundekalt hier.

In die Hände pustend.

RUDOLF nähert sich Marcel.
Und ich, Marcel, will dir’s nicht hehlen,
Daß mir Schweißtropfen jämmerlich fehlen.
MARCEL.
Mir erfrieren die Finger fast,
Als wenn sie im Eisschrank gelegen,
Suchend Musettens Herzchen,
Das so eiskalt wie verwegen.
RUDOLF.
Die Lieb‘ ist ein Kamin,
Der viel Heizung aufzehrt.
MARCEL.
Unbändig!
RUDOLF.
Wo das Scheitholz der Mann …
MARCEL.
Und das Weib schürt beständig …
RUDOLF.
Er verbrennet wie Zunder …
MARCEL.
Sie sieht’s und wird nur runder …
RUDOLF.
Indes wir hier – erfrieren …
MARCEL.
Und zu Tode verhungern …
RUDOLF.
Wir brauchen Feuer …
MARCEL.
Paß auf jetzt …

Er nimmt einen Stuhl, um ihn zu verbrennen.

Opfern wir, was uns teuer!
RUDOLF hindert rasch das Vorhaben Marcels.
Heureka!

Freudig ausbrechend über eine Idee.

MARCEL.
Du fandst was?
RUDOLF.
Ja!

Er läuft zum Tisch, von welchem er triumphierend ein dickes Bündel Manuskripte nimmt.

Ein glorreicher Einfall:
Wir heizen mit Ideen…
MARCEL auf sein Bild zeigend.
Du zündest das »Meer« an?
RUDOLF.
Nein. Riecht doch bemalte Leinwand!
Hier mein Drama! Die glühenden Verse
Sollst du wirken sehen.
MARCEL mit komischem Schreck.
Die Verse mir lesen? Mir schaudert.
RUDOLF.
Nein!
Zu Asche vergeh‘ das Papier!
Die Poesie kehret
Heimwärts zum Himmelsdom …

Affektiert, wichtig.

Den Schaden trägt schwer das Jahrhundert,
»Doch Gefahr dräuet Rom …«
MARCEL ebenfalls übertrieben.
Edles Herz!
RUDOLF gibt Marcel einen Teil des Manuskriptes.
Hier hast du den ersten Akt …
MARCEL.
Gib!
RUDOLF.
Zerreiß ihn!
MARCEL.
Zünd an!

Rudolf schlägt Feuer am Stahl, zündet eine Kerze an und tritt zum Kamin mit Marcel zusammen. Sie brennen das Manuskript an, setzen sich zum Kamin, an dessen hochlodernden Flammen sie sich mit Wonne wärmen.

RUDOLF.
Welch ein warmer Schein …
MARCEL.
Dringt durch Mark und Bein …

Die Türe im Hintergrund wird mit großem Lärmen geöffnet. Collin tritt frierend herein, stampft mit den Füßen vor Kälte und wirft zornig ein Paket Bücher, die in ein Taschentuch gebunden sind, auf den Tisch.

COLLIN.
Zeichen sind schon zu sehen der Apokalypse.
Denn heut‘ am Weihnachtsabend ist das
Leihhaus geschlossen …

Erstaunt das Feuer im Kamin gewahrend.

Ah! wie schön das flammt! …
RUDOLF zu Collin.
Schweige: Man gibt mein Drama …
COLLIN.
Sehr feurig!
Ich find‘ dein Opus glänzend,
Lebhaft,

Das Feuer erlischt.

doch allzu kurz! …
RUDOLF.
Kürze ist oft ein Vorzug …

Collin nimmt Rudolf den Stuhl weg.

COLLIN.
Gib deinen Stuhl her, Autor!
MARCEL.
Die Intermezzi töten mich durch Dummheit;
Vorwärts …
RUDOLF einen weiteren Teil des Manuskriptes nehmend.
Der zweite Akt beginne!
MARCEL zu Collin.
Laß doch das Lärmen …

Rudolf zerreißt das zweite Manuskriptbündel und wirft es ins Feuer, das fröhlich aufflackert. Collin nähert seinen Stuhl wieder dem Kamin und wärmt sich die Hände; Rudolf bleibt, das Manuskript betrachtend, nahebei stehen.

COLLIN.
Welch tiefe Weisheit …
MARCEL.
Edler Geschmack!
RUDOLF.
In diesen bläulich zuckenden Flammen
Zehrt eine Liebesszene sich auf …
COLLIN.
Horch! Wie es knistert …
MARCEL.
Das waren Küsse …

Wirft den Rest des Manuskriptes ins Feuer.

RUDOLF.
Nimm, dritter Akt, zum Parnaß den Lauf.
COLLIN.
Nun ist erreicht auch des Dichters Streben.
MARCEL, RUDOLF UND COLLIN mit Enthusias mus applaudierend.
Schön ist’s, in Flammen heiter vergehn!

Die Flamme nimmt ab.

Schon klein wird der Schein, schwankt; erlischt …
COLLIN.
So elend und schwach wie dein Drama …
MARCEL.
Jetzt flammt es noch einmal auf und stirbt …

Das Feuer erlischt.

COLLIN UND MARCEL.
Zischt nieder den Autor und sein Werk! …

Von hinten durch die Türe treten zwei Burschen herein. Der eine trägt Speisen, Weinflaschen, Zigarren; der andere Scheite Brennholz. Die drei Freunde drehen sich bei dem Geräusch des Eintretens vom Kamin um, und mit Freudengeschrei nehmen sie den Burschen alles ab, die Speisen auf den Tisch, das Holz an den Kamin tragend.

RUDOLF überrascht.
Brennholz!
MARCEL ebenso.
Zigarren! …
COLLIN ebenso.
Bordeaux!

Es fängt an, dunkel zu werden.

Brennholz – Bordeaux!

Durcheinander.

RUDOLF, MARCEL UND COLLIN mit ausgelassener Freude.
Welchen Überfluß des Markts
Wirft uns das Schicksal in den Schoß …
SCHAUNARD tritt stolz mit triumphierender Miene ein und wirft einige Fünffrankstücke auf die Erde.
Da, euer Bedarf wird
Die Bank von Frankreich sprengen …
COLLIN.
Schnell suchet die Münzen …

Die rollenden Münzen auflesend.

MARCEL ungläubig.
Sie sind wohl von Blech!
SCHAUNARD zeigt Marcel ein silbernes Fünffrankstück.
Bist taub du? Und blöde?

Zu den anderen.

Wess‘ ist dieses Bild?
RUDOLF.
Des Königs, fürwahr, Ludwig Philipp ist’s!

Sich verbeugend.

MARCEL, RUDOLF, COLLIN UND SCHAUNARD.
Wie, der König von Frankreich
Zu Füßen uns?

Sie legen die vom Boden aufgelesenen Geldstücke auf den Tisch.

SCHAUNARD möchte sein Glück erzählen, aber die anderen hören nicht zu, sie bereiten alles am Tisch zum Essen vor.
Jetzt höret zu …
Dies Gold hier …
Nein, dieses Silber …
Hat folgende Geschichte …
MARCEL.
Ich sorg‘ erst für das Feuer …

Legt Holz in den Kamin.

COLLIN.
Weil die Kälte ihn umbringt …
SCHAUNARD.
’s war ein englischer Herr …

Fortfahrend.

Ein Lord, Mylord vielleicht, was weiß ich,
’nen Musiker … wollt‘ er …
MARCEL wirft Collins Bücher vom Tisch, um Platz zu bekommen.
Weg! denn wir decken den Tisch jetzt …
SCHAUNARD verdrängt.
Ich eile …
RUDOLF.
Wo ist der Zunder?
COLLIN.
Dort!
MARCEL.
Hier!

Er reicht den Zunder, man zündet ein frisches, großes Feuer an.

SCHAUNARD fortfahrend.
Ich stell mich vor …
»Bin ich genehm Euch?« frag‘ ich …
COLLIN.
Hier kalter Braten …

Rudolf setzt die Eßwaren auf den Tisch und zündet die zweite Kerze an.

MARCEL.
Ha, die Pastete!
SCHAUNARD.
»Wann fangen wir die Stunden an?«
Er starrt ins Aug‘ mir,
Dann nickt er gar gewichtig
Und gibt, betreff‘ des Anfangs,
Die Antwort: »Well – sogleich.
Blick dort Sie!« (’nen Papagei zeigt er
mir im ersten Stock) und er näselt:
»Spielen sollen Sie, bis
Sterben der Vogel.«
RUDOLF.
Lasset den Saal im Licht erstrahlen …
MARCEL die zwei brennenden Lichter auf den Tisch stellend.
Hier sind die Kerzen!
COLLIN.
Fleisch wie zum Malen!
SCHAUNARD fortfahrend.
Und so geschah’s! Ich spielt‘ drei Tage lang,
Dann hab‘ ich klug bestochen
Durch mein gentiles Wesen
Die Dienerin des Hauses!
Ohn‘ vieles Federlesen:
MARCEL.
Ohn‘ Tischtuch soll man essen?
RUDOLF eine Zeitung aus der Tasche ziehend.
Ich weiß Rat …
COLLIN UND MARCEL.
»Der Constitutionnel!«
RUDOLF.
Bestes Papier! Man ißt und trinkt
Vom Feuilleton. Macht schnell!

Man breitet die Zeitung als Tischtuch aus; während Rudolf und Marcel den vierten Stuhl herbeitragen, ist Collin immer mit der Fleischschüssel beschäftigt.

SCHAUNARD.
Dem Vogel bracht‘ ich Schierling bei,
Und weit die Flügel spreizend,
Denkt er als Philosoph: »Ei, ei,
Den Schnabel sperr‘ ich auf!«
. . . . . . . . . . . . . . . . .
Und er beschloß wie Sokrates
Durch Gift den Lebenslauf.

Schaunard sieht endlich, daß niemand ihm zuhört und faßt Collin, der gerade mit der Schüssel vorbeigeht, am Kragen.

COLLIN.
Wer?
SCHAUNARD.
Euch hole allzusammen gleich der Teufel …

Verdrossen.

Er sieht, daß die anderen anfangen, von der Pastete zu essen.

Was soll das heißen? Nein!

Mit einer feierlichen Handbewegung über die Pastete hindert er die Freunde, davon zu essen, nimmt dann sämtliche Speisen vom Tisch und trägt sie in den Schrank.

Hier diese Speisen dienen erst dann dem Magen,
Wenn wir in Not sind einst, in schlimmen Tagen!
Zu Hause essen? Am heil’gen Weihnachtsabend?
Wo das Quartier Latin die Straßen ziert
Mit Leckerei’n und Wurst in ganzen Lasten?
Während der Duft von frischen Kuchen
Köstlich und süß die Luft durchzieht!

Lachend umzingeln die Freunde den Sänger.

Und junge Mädchen friedlich singen …
ALLE VIER.
Fromm das Weihnachtslied im Chor!
SCHAUNARD für sich.
(Doch als ihr Echo haben sie Studenten!)

Feierlich.

Ein bißchen Religion, o meine Herren!
Hier dürft ihr trinken, essen außer Haus!

Rudolf schließt mit einem Schlüssel vernehmlich die Türe ab. Dann setzen sich alle vier zum Tische und schenken sich Wein ein. Plötzlich klopft es zweimal stark an die Türe.

BERNARD von außen.
Ist’s erlaubt?

Alle sind höchst erstaunt.

MARCEL.
Wer ist da?
BERNARD.
Bernard – ich!
MARCEL.
Der Besitzer des Hauses!

Alle stellen die Gläser weg.

SCHAUNARD leise.
Hand auf den Mund …
COLLIN nach der Tür rufend.
»’s ist niemand hier!«
SCHAUNARD.
»Verschlossen!«
BERNARD.
Bitte – ein Wort nur! …
SCHAUNARD nach Beratung mit den Freunden, geht zur Tür, um zu öffnen.
Eins nur!
BERNARD tritt höflich lächelnd zu Marcel und zeigt ihm ein Papier.
Die Miete!
MARCEL empfängt den Wirt mit der größten Höflichkeit.
Heda! Schnell einen Stuhl her …
RUDOLF.
Eilt euch …

Einer bringt den Stuhl, aber Bernard wehrt sich.

BERNARD.
Ganz unmöglich … Ich möcht‘ nur …
MARCEL bietet Bernard ein Glas Wein an.
Ihr trinkt doch?
RUDOLF.
Ein Gläschen!
SCHAUNARD hat Bernard mit sanfter Gewalt zum Sitzen genötigt.
Setzt Euch!
BERNARD.
Danke!

Alle sitzen jetzt, nur Collin, der den vierten Stuhl Bernard gegeben hat, steht.

RUDOLF zu Bernard.
Euer Wohlsein! …
COLLIN.
Stoßt an, Herr!

Alle führen die Gläser zum Munde.

RUDOLF.
Stoßt an!
SCHAUNARD.
Trinkt!
BERNARD hat sein Glas hingesetzt, holt wieder das Papier hervor, und wendet sich zu Marcel.
… ’s ist der Letzte des Quartales …
MARCEL unbefangen tuend.
Seht, das freut mich …
BERNARD.
Und deshalb …
SCHAUNARD Bernard unterbrechend.
Nur einen Schluck noch! …
BERNARD.
Danke! …
RUDOLF sich erhebend.
Stoßt an …
COLLIN.
So sei’s.

Alle stehen jetzt auf.

Auf Herrn Bernards Wohlsein!

Alle setzen sich wieder, auch Collin, der dazu den Schemel vor der Staffelei benützt.

BERNARD immer wieder mit Marcel anbindend.
Ich kam zu Euch, Herr, weil beim vor’gen Zahltag Ihr versprochen …
MARCEL zeigt Bernard das auf dem Tisch liegende Geld.
Was ich versprach, das halt‘ ich!
RUDOLF maßlos erstaunt, leise zu Marcel.
Was tust du?
SCHAUNARD leise zu demselben.
Bist toll du?
MARCEL zu Bernard, ohne die Freunde zu beachten.
Das Geld saht Ihr!
Doch nun bleibt noch ein Weilchen
In unserer Gesellschaft …

Stemmt die Arme auf den Tisch.

Sagt mal: Wie alt seid Ihr?
Lieber Herr Bernard, sprecht …
BERNARD erschreckt.
Wie alt? Du guter Gott!
RUDOLF.
So alt etwa wie wir!
BERNARD fast gesprochen, protestierend.
Viel mehr – Ihr ratet schlecht.
COLLIN.
Er meint nur »ungefähr …«

Die Freunde schenken Bernard immer gleich wieder ein, wenn er getrunken hat.

MARCEL zu Bernard, die Stimme geheimnisvoll dämpfend.
Eine Falle stellt‘ man gestern abend
Bei Mabill einer Frau …
BERNARD unruhig.
Ich?
MARCEL.
Bei Mabill – eine Liebesfalle!

Ruhig fortfahrend.

Leugnet …
BERNARD selbstgefällig.
Nur Zufall …
MARCEL ihm schmeichelnd.
Wohl hübsch, das Weibchen?
BERNARD immer mehr trunken und geschmeichelt.
Ganz reizend!
SCHAUNARD ihm auf die Schulter schlagend.
Du Spitzbub‘ …
RUDOLF.
Kaum glaublich …
COLLIN Bernard auf die andere Schulter klopfend.
Ha, Verführer …
SCHAUNARD.
O Don Juan …
RUDOLF.
Der Heuchler!
MARCEL betrachtet Bernards Figur wie bewundernd.
Eine Eiche! ’ne Kanone! …
RUDOLF.
Das nenn‘ Geschmack ich.

Geht auf Marcels Lob ein.

BERNARD eitel, lachend.
Hä, hä, hä …
MARCEL wie oben.
Gelockt die roten Haare …
SCHAUNARD für sich.
Don Juan.
MARCEL.
Ein Bild der Kraft.
Wie sie stolz den Sieger zieret …
BERNARD dreht sich selbstgefällig.
Bin alt zwar, aber rüstig! …
RUDOLF, SCHAUNARD UND COLLIN ironisch, aber ernsthaft.
Aber zu viel der Liebe,
Ei, das büßt sich …
MARCEL.
Es fiel durch ihn die tugendreichste Frau!
BERNARD schmunzelnd, halbtrunken.
Einst war ich schüchtern sehr,
Nach hol‘ ich das Versäumte.

Blinzelnd.

Gesteh‘, daß von schönen Weibern
Ich gerne träumte!
Jedoch:

Er macht eine entsprechende Geste.

Nicht soll dem Walfisch, noch dem Globus sie gleichen,
Oder dem Vollmond ihr feist Gesicht …
Doch die Magern, grad‘ die Magern, mag ich nicht.
Bös sind die mageren Frauenzimmer;
Sie quälen Männer immer;
Darum traue ich keiner,
Auch zum Beispiel nicht Meiner!
MARCEL schlägt wie empört mit der Faust stark auf den Tisch, die anderen ahmen dies nach. Bernard ist äußerst bestürzt.
Er hat ein Weib
Und sucht sünd’gen Zeitvertreib!
SCHAUNARD UND COLLIN.
O Schmach!
RUDOLF.
Es ist ein Graus!
Er vergiftet dies ehrbare Haus …
SCHAUNARD UND COLLIN.
Hinaus!

Bernard vor Angst erbleichend, steht auf und will sprechen, aber sie lassen es nicht zu.

MARCEL.
Man räuchere aus den frommen Saal.
COLLIN.
Dieser Mann liebt Frauenzimmer …
SCHAUNARD.
Flieht die beleidigte Moral,

Zu Bernard.

Sie verbannt Euch!
MARCEL, RUDOLF UND COLLIN zu Bernard.
Ha, schweigt nur.
Er lügt ja …
Glaubt ihm nimmer!
BERNARD immer bestürzter.
Ihr Herrn, hört an,
Ich beschwör‘ Euch …
MARCEL, SCHAUNARD UND COLLIN.
Nein, kein Wort!
ALLE VIER Bernard zur Tür hinausschiebend.
Schweigt! Ihr seid erkannt!
Schert Euch fort!
Doch guten Abend
Bestellt an Eure Frau!

Alle stehen auf der Türschwelle und sehen Bernard lachend nach, wie er die Treppe gewinnt.

Lachen.

Ha, ha, ha …
MARCEL.
So zahl‘ ich die Miete!

Er schließt lachend die Türe.

SCHAUNARD ruft.
Ins lateinische Viertel!
Auf! Momus harrt!
MARCEL.
Hoch dem, der dort zahlt …
SCHAUNARD.
Teilt die Beute jetzt aus …
RUDOLF.
Ja, so sei’s!
COLLIN.
Mir ist’s recht …

Sie teilen das auf dem Tisch liegende Geld untereinander.

MARCEL Collin einen zerbrochenen Spiegel zeigend.
Manche Schöne gibt’s, himmelentsprossen,
Jetzt, da du endlich reich, such‘ unverdrossen,
Bär! Doch streich‘ dir erst den Pelz glatt!
COLLIN.
Ich will zum ersten Male
Dem Bartscher opfern.
Wird mein Aussehn besser,
Ertrag‘ ich das Gekratze
Mit dem ungezogenen Messer!
… So kommt!
DIE DREI sich komisch bekomplimentierend.
Mein Herr, jawohl, wir gehn …
RUDOLF.
Ich bleibe, um noch zuvor zu enden
Den Artikel für die Zeitung …
MARCEL.
Doch eil‘ dich …
RUDOLF.
Fünf Minuten …
Ich kenne mein Handwerk.
COLLIN.
Wir wollen warten beim Portier …
MARCEL.
Wenn du zu spät kommst, weh‘ dir!
RUDOLF.
Nur fünf Minuten …
SCHAUNARD im Weggehen.
Kürz‘ nur dreist den Artikel für dein Blatt!

Rudolf nimmt vom Tisch die eine Kerze und geht an die Tür, die er den Freunden öffnet. Diese treten hinaus und steigen die Treppe hinab.

MARCEL auf dem Flur.
Paßt auf die Treppe, haltet das Geländer …
RUDOLF leuchtet, an der Tür stehend, mit erhobenem Licht den Freunden.
Nur langsam! …

Die Stimmen klingen immer ferner.

MARCEL.
’s ist ganz stockdunkel …
SCHAUNARD.
Der Portier sei verflucht …

Man hört von fern jemand stolpern.

COLLIN von fern schreiend.
Ah, zum Teufel …
RUDOLF.
Collin – bist du tot?
COLLIN ganz von unten.
Nein, noch nicht …
MARCEL nur noch schwach hörbar.
Mach vorwärts!

Rudolf tritt ins Zimmer zurück, macht die Tür zu, stellt das Licht auf den Tisch, dessen Ecke er zum Schreiben freimacht, und setzt sich an die Arbeit, nachdem er das eine Licht verlöscht hat. Er schreibt, unterbricht sich, sinnt nach und schreibt wieder; endlich wirft er die Feder weg.

RUDOLF mißmutig.
Ich bin nicht aufgelegt …

Es klopft leise an die Türe.

Wer klopft?
MIMI.
Entschuldigt …
RUDOLF aufstehend.
Eine Dame?
MIMI.
Ich bitte … mir erlosch die Kerze …
RUDOLF die Tür öffnend.
So!
MIMI auf der Schwelle erscheint Mimi, einen Leuchter und Schlüssel in der Hand.
Seid so gütig …
RUDOLF.
Setzt Euch ein Weilchen nieder …
MIMI.
’s ist nicht nötig …
RUDOLF drängend.
Ich bitte, kommt näher …

Mimi tritt herein, bekommt aber sogleich einen Erstickungsanfall.

RUDOLF sehr teilnehmend.
Ist Ihnen unwohl?
MIMI.
Nein – ’s ist nichts …
RUDOLF.
Ihr erbleicht ja …
MIMI hustet.
O, der Atem – diese Treppen …

Sie fällt in Ohnmacht; Rudolf hat nur so viel Zeit, sie aufzufangen und sanft auf einen Stuhl zu setzen; Leuchter und Schlüssel entfallen ihr.

RUDOLF verwirrt.
Und was soll ich nun machen?

Er holt Wasser und spritzt Mimi ins Gesicht; dann betrachtet er sie mit tiefem Interesse.

Wie leidend sind die Züge!

Mimi kommt zu sich.

RUDOLF.
Ist Ihnen besser?
MIMI.
Ja.
RUDOLF.
Hier ist’s kalt im Zimmer …
Setzen Sie sich zum Feuer.

Sie schüttelt ablehnend den Kopf.

Ein Einfall! … Ein bißchen Wein hilft …
MIMI.
Danke!
RUDOLF er nimmt ein Glas und schenkt ein.
So. Hier.
MIMI.
Nicht so viel, Herr …
RUDOLF.
Wie geht’s? …
MIMI sie trinkt.
Danke …
RUDOLF für sich.
Welch liebliches Mädchen …

Betrachtet sie bewundernd.

MIMI steht auf und sucht ihren Leuchter.
Bitte, erlaubt jetzt, Licht zu nehmen …
Mir ist viel besser …
RUDOLF.
Ist’s so eilig?
MIMI.
Ja!

Rudolf sucht auf dem Boden das Licht, hebt es auf, zündet es an und überreicht es schweigend Mimi.

MIMI sie geht zum Ausgang.
Danke! Guten Abend!
RUDOLF geht bis zur Türe mit.
Guten bend!
MIMI von außen.
O, ich Törin! …

Rudolf war gleich zum Tische zurückgekehrt. Mimi tritt, von außen die Tür öffnend, wieder in das Zimmer, bleibt aber auf der Schwelle stehen.

… Wie vergeßlich! Den Wohnungsschlüssel
Ließ ich hier bei Euch noch liegen!
RUDOLF.
Bleibt nicht dort auf der Schwelle,
Eu’r Licht löscht der Zugwind von der Treppe.

Hier verlöscht Mimis Kerze abermals.

MIMI.
Ach Gott – Herr! Brennt mir’s noch einmal an …
RUDOLF kommt schnell mit seinem Licht zur Türe, aber der Wind löscht nun auch sein Licht aus. Das Zimmer ist ganz dunkel.
O Gott! Mein Licht löscht nun auch aus …
MIMI.
Ach – ohne Schlüssel, welche Pein!

Sie tastet sich bis zum Tisch, auf den sie den Leuchter stellt.

RUDOLF.
Dichtes Dunkel!
MIMI.
Ich Unsel’ge! …
RUDOLF.
Wo mag er sein?

Mimi tastet vorsichtig nach vorn, immer graziös.

MIMI.
Ach, die Nachbarin wird spotten.
RUDOLF sich immer zu Mimis Stimme wendend.
Wirklich peinlich …
MIMI.
Müßt‘ ich ohne Schlüssel kommen.
RUDOLF.
Was kann ihr Gerede frommen?
MIMI.
Suchet doch! …
RUDOLF.
Vergeblich!

Er stößt an den Tisch, stellt den Leuchter tastend darauf und sucht mit beiden Händen nach dem Schlüssel.

MIMI ängstlich.
Ich finde nichts …
RUDOLF.
Ha!

Er fand den Schlüssel, stieß unwillkürlich den Schrei aus, den er aber sofort bereut, und steckt den Schlüssel heimlich in die Tasche.

MIMI.
Ah, gefunden?
RUDOLF.
Nein!
MIMI.
Mir schien doch …
RUDOLF.
Ich dacht‘ es auch …
MIMI tastend weitersuchend.
Ihr sucht doch?
RUDOLF.
Sicher! …

Er stellt sich suchend, trachtet aber nur, ihrer Stimme folgend, sich Mimi zu nähern.

MIMI kniet nieder und sucht; er schleicht ihr näher und erfaßt ihre Hand) (überrascht.
Ha!
RUDOLF hält Mimis Hand und sagt mit gerührter Stimme.
Wie eiskalt ist dies Händchen …
Laßt, ich mache es Euch warm …
Was nutzt das Suchen?
Zum Finden ist’s zu dunkel,
Bis erst der Vollmond am Himmel emporsteigt
Und überstrahlet der Sterne Gefunkel.

Mimi will ihre Hand zurückziehen.

Erlauben Sie, mein Fräulein,
Daß ich kurz Bericht Euch gebe,
Wer ich wohl bin, was ich treibe,
Und wie ich hier lebe!
Erlaubt Ihr’s?

Sie schweigt; Rudolf läßt ihre Hand los; während sie rückwärts einen Schritt macht, komm sie zum Stuhl, auf den sie erschöpft niedersinkt.

Wer ich bin? So hört!
Bin nur ein Dichter.
Und was ich tue? Schreiben!
Und wie ich lebe? Nun, ich lebe!
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
In diesen armen Räumen
Streu‘ ich als Krösus Verse
Und manch‘ Liedchen umher.
Ich leb‘ in goldnen Träumen
Und bau‘ mir Luftschlösser,
Fühl‘ mich im Geist als Millionär;
Aus meiner Truhe stehlen
Oft die schönsten Juwelen
Ein Diebespaar: zwei Äuglein!
Mit Euch sind diese Diebe
Wieder hereingekommen,
Haben alle Gedanken
Plötzlich mir weggenommen …
Doch bin ich drob nicht böse.
Denn oh! Süße Hoffnung ist
In die Seele mir eingezogen …
So – mich könnt Ihr jetzt kennen,
Nun sagt auch Ihr mir –
Wie darf Euch ich nennen?
MIMI sitzend, zuerst unschlüssig, dann bestimmter.
Gut. Man nennt mich jetzt Mimi,
Einst hieß ich Lucia.
Mein Los ist bald geschildert:
Auf Leinwand stick‘ ich
Zu Hause oder auswärts! …
Still und heitern Wesens,
Beglückt darf Rosen und Lilien ich sticken,
Dann wird die Arbeit Entzücken,
Wecket wonnige Triebe,
Erzählt mir hold von Lenz und Liebe!
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
So wieg‘ ich mich in Träumen und Schimären.
»Poesie« nennt man’s, schwärmen in den Sphären.
Ihr versteht mich?
RUDOLF gerührt.
Ja!
MIMI.
Man nennt mich jetzt nur Mimi,
Weiß nicht warum!
Fleißig bin ich und koche selbst mein Essen.
Und fehlt die Zeit zur Kirche,
Bet‘ ich doch fromm zum Herrn.
Leb‘ allein, ganz einsam.
Dort von dem kleinen weißen Stübchen

Auf die nachbarliche Mansarde weisend.

Seh‘ Welt und Dächer ich, tief im Schnee;

Sie steht auf.

Taut ihn des Lenzes Sonne:
Ich seh‘ zuerst ihr Strahlen.
Mein ist des Frühlings reinste Wonne
Und mein sein Kuß, der löst
Des Winters Qualen …
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Und wächst mir am Fenster die Rose,
Möcht‘ die Knospen ich hüten.
Nichts ist so süß als der Duft
Der Blüten …
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ach, Blumen, nur gestickt,
Sind ohne Duft, der dort die Rose schmückt.
Nichts andres wüßt ich mehr von mir zu sagen.
Wollet verzeihen, daß als Nachbarin
Euch zu stören ich mocht wagen …
MARCEL, SCHAUNARD UND COLLIN rufen schreiend vom Hofe herauf.
He, Rudolf!
Holla!
Wo bleibst du?

Bei dem Andauern des Rufens wird Rudolf ungeduldig. Er tappt sich zum Fenster, öffnet es, lehnt sich hinaus und spricht hinab. Durch das offene Fenster flutet das Mondlicht herein.

MARCEL.
Du Schnecke!
COLLIN.
Du Reimschmied!
SCHAUNARD.
Du verwünschter Faulpelz!
RUDOLF vom Fenster rufend.
Nur vier Zeilen! Bin gleich fertig …
MIMI sich ein wenig dem Fenster nähernd.
Wer ist es?
RUDOLF sich zu Mimi kehrend.
Drei Freunde.
SCHAUNARD von unten.
Wart! Du lernst mich kennen!
MARCEL.
Was machst du oben einsam?
RUDOLF eben.
Bin nicht allein! Wir sind zu zwei’n!
Zu Momus geht voraus; belegt ’nen Tisch,
Wir folgen augenblicklich …

Er weilt noch einen Moment, um sich zu überzeugen, daß die Freunde gingen; Mimi kommt noch näher ans Fenster, wo das Mondlicht sie voll beleuchtet.

DIE FREUNDE UNTEN.
Momus, Momus, Momus,
Leis‘ ziehn wir fort, nicht fragend »was« und »wie«
Er fand die Poesie!
Momus, Momus!

Alle zogen unten ab.

RUDOLF sich umdrehend, gewahrt Mimi, die im Mondlichte wie leuchtend dasteht, und ist entzückt von dem Anblick.
O du süßestes Mädchen,
Mild ist dein Antlitz
Umflossen von des Mondes Licht.
In dir erblick‘ ich, zur Wirklichkeit geworden,
Mein schönstes Gedicht …
MIMI ergriffen.
Ach, das tat der Liebe Macht,
Sie einzig hat das Herz bezwungen.
RUDOLF.
Durch die Seele ziehen leis‘
Wonnen, die nie mir erklungen.
BEIDE sich umarmend.
O laß die Lippen dein
Mich leis‘ berühren,
Heiß die Seligkeit trinken,
Die beut dein Kuß allein!

Hingebend.

O, wie sein schmeichelnd Liebeswort
Dringt in die Seele ein,
Dein Kuß ist Glück allein!

Er küßt Mimi.

MIMI.
Nein – habt Mitleid …

Sich loswindend.

RUDOLF.
Nun bist du mein!
MIMI.
Es harren die Freunde …
RUDOLF.
Wie – du schickst mich fort?
MIMI schwankend, zögernd.
Ich möchte – nein, ich wag’s nicht …
RUDOLF zärtlich.
Sprich …
MIMI schelmisch.
Wenn mit … Euch ich nun ging‘ …
RUDOLF erstaunt.
Du, Mimi?
Es wär doch schön zu weilen hier! …
Draußen weht der Nachtwind …
MIMI mit großer Hingebung.
Will Euch ja nicht verlassen!
RUDOLF.
Wenn wir zurück sind?
MIMI neckend.
Neugier’ger!
RUDOLF verbindlich, hilft Mimi ihren Schal umnehmen.
Reich‘ mir den Arm, liebes Kind.
MIMI.
Ich gehorche, mein Herr …

Sie gibt lächelnd den Arm; – beide gehen Arm in Arm zur Tür.

RUDOLF.
Du liebst mich sehr?
MIMI.
Ich liebe dich …
BEIDE von außen.
Ich lieb‘ nur dich allein!

Der Vorhang fällt rasch

Ende des I. Bildes

Zweites Bild

»Gustav Collin, der große Philosoph, Marcel, der große Maler, Rudolf, der große Dichter, und Schaunard, der große Musiker, wie sie sich gegenseitig nannten, waren Stammgäste im Café Momus, wo man sie, ‚die vier Musketiere‘ nannte, weil sie unzertrennlich waren.«
»Sie kamen, spielten, gingen wieder – immer zusammen und sehr oft, ohne ihre Rechnung zu bezahlen, stets aber in einer Harmonie, welche selbst dem Orchester des Konservatoriums Ehre gemacht haben würde.«
»Musette war ein reizendes Mädchen von zwanzig Jahren. Es fehlte ihr nicht an Koketterie, noch an Ehrgeiz, höchstens an Orthographie. Sie war der Stern des Quartier Latin, und die gelegentliche Abwechslung zwischen einem eleganten Brougham und einem Omnibus, zwischen der Via Breda und dem Quartier Latin focht sie weiter nicht an …«
»Was wollen Sie? Ab und zu fühle ich das Bedürfnis, diese Luft einzuatmen und dieses Leben zu führen. Mein tolles Dasein ist wie ein Lied, wovon jedes Liebesverhältnis eine Strophe – der Refrain aber immer Marcel ist.«

Im Quartier Latin

Ein Kreuzungspunkt mehrerer belebter Straßen, die hier einen kleinen Platz bilden. Kaufläden aller Art, Wirtschaften; an der einen Seite das Café Momus.

Heiliger-Weihnachts-Abend

Großes mannigfaltiges Gedränge: Bürger, Soldaten, Dienstmädchen, Kinder und junge Leute beiderlei Geschlechts, Studenten, Gendarmerie usw. Von der Schwelle ihrer Läden schreien die Verkäufer lobpreisend ihre Waren aus. Rudolf und Mimi gehen im Gedränge umher. Collin weilt bei der Bude einer Flickerin. Schaunard kauft bei einem Hausierer eine Pfeife und ein Horn. Marcel, allein, wird von der Menge hin und her geschoben. Vor dem Café Momus sitzen Bürger. Es ist Abend. Die Läden sind mit Lämpchen geschmückt, auch die Straßenlaternen brennen, und vor dem Eingang zum Café hängt ein großer Lampion.

Ensemble.

Die Verkäufer

Gleichzeitig, durcheinander, locken von den Läden aus schreiend die Menge.

Orangen! Datteln! Ah!
Spielzeug, Schmuck aller Sorten
Heiße Maronen, Karamellen, Mandeln,
Mit Sahne süße Torten.
Ah!
Mandelkuchen, Blumen den Schönen!
Kokosnuß; hier Spatzen, Wachteln!
Feines Konfekt in Schachteln,
Schoten, Karotten,
Melonen …
Fische! Forellen, Pflaumen von Tours!
Immer näher!
Kaufet nur!
Nippfiguren, Nudeln, Broschen
Kauft man hier für einen Groschen!

Die Menge

Gleichzeitig, durcheinander.

Welch‘ Gedränge, welch‘ Lärmen!
Welch ein Hin-und-wieder-Schwärmen!
Ah!
Laßt uns gehen! …
Haltet fest euch …
’s ist zu arg hier –
Kommt gleich! Ach!
Nicht so drängen!
Gebt den Weg frei!
Festgehalten!
Folgt uns nach!
Emma, hör‘ mich doch rufen!
Ich such ’ne Lanze!
Aufgepaßt!
Fallt nicht über
Stufen …
Rasch nur, vorwärts!
Bleibt nicht stehn;
’s ist zum Ersticken!
Laßt uns gehn.
DIE BUBEN.
Schreit! Lauft!
Balgt und rauft!
DIE MENGE fortwährend gehend und kommend von und nach den verschiedenen Straßen.
Zu enge wird’s.
Bald fehlt’s an Luft.

Kaffeehausgäste

Zu den hin- und hereilenden Kellnern.

He, schnell …
Kellner, hier!
Ein Glas mir!
Schnell doch! Bier!
Lauft doch! Kaffee!
Kellner, he!
Wird’s bald?
Hier, zu trinken!
Zahlen, vorwärts, denn ich geh!

Die Freunde

SCHAUNARD bläst in das Horn, welches er bei dem Trödler einhandelte.
Falsch klingt
dieses »D«
Tut den Ohren weh!
Sagt, was kostet
der Quark?

Er bezahlt.

COLLIN bei der Flickschneiderin, die ihm einen langen Rock anpreist, den sie soeben ausgebessert hat.
Ein bißchen schäbig! …
Doch billig
und behäbig! …

Bezahlt und verteilt dann die Bücher, die er gekauft, in die Rocktaschen.

MARCEL mit einem Bündel unter dem Arm, ist in der Menge ganz allein. Er betrachtet die Frauen und Mädchen, die der Menschenstrom ihm entgegentreibt.
Fast hätt‘ ich Lust, wie jene laut zu schrei’n:
»Wer von euch, schöne Mädchen, möcht‘ wohl
Ein bißchen Liebe?«

Nähert sich einem Mädchen.

»Wir spielen hübsch zu zwei’n:
Verkauf‘ ich, mußt du Käuf’rin sein!«
Fünf Pfenn’ge kostet nur mein schuldlos Herz!

Das Mädchen läuft lachend weg.

Die Freunde

Rudolf und Mimi, Arm in Arm, schreiten quer durch die Menge nach hinten zum Laden einer Modistin.

RUDOLF.
… So komm!
MIMI.
Ganz recht! Die Haube kaufen!
RUDOLF.
Fest halt an meinem Arm dich.
MIMI.
So fest als ich nur kann!
… Hier ist’s.

Sie treten in den Laden der Modistin.

Rudolf und Mimi in zärtlicher Unterhaltung verlieren sich hinten in der Menge. Letztere ist unablässig in lebhafter Bewegung. Zwischen den Gruppen rennen Gassenbuben von Laden zu Laden, die Schaufenster betrachtend. Fortwährend gehen Bürger ins Café und treten heraus. Von allen Seiten drängen Menschen herbei und ziehen sich nach und nach, planlos spazierend, zum Hintergrund. Die Verkäufer hören nicht auf mit ihren Anpreisungen.

RUDOLF tritt mit Mimi aus dem Laden.
Komm, mein Kind, die Freunde warten schon.
MIMI.
Sag‘, wie kleidet mich der rosa Capuchon?
RUDOLF.
Brunetten stehet gut die Farbe!
MIMI eine Ladenauslage sehnsüchtig bewundernd.
Wie schön das Korallen-Halsband!
RUDOLF.
Ich hab‘ ’nen Ohm, der Millionär ist –
Fügt es Gott, werd‘ ich einst erben
Und dir weit schön’ren Schmuck alsdann erwerben.

Die Freunde

SCHAUNARD wandelt vor dem Café Momus auf und ab und wartet auf die Freunde. Er trägt die riesige Pfeife und das Horn und belustigt sich über die drängende Menge.
Wie die Leute sich die Lippen brechen
Und beim Drängen noch von Vergnügen sprechen!
Sind die Straßen am vollsten,
Ist man am tollsten!

Er trifft auf Collin und schlägt ihn auf die Schulter, Collin kommt zum Stelldichein ganz triumphierend, hält ein altes Buch hoch in die Luft und ruft.

COLLIN.
Sieh‘ dies Buch, Freund! Fürwahr!
’ne Grammatik der Runen und äußerst rar.
SCHAUNARD.
Braver Mensch du!
MARCEL kommt vor dem Café Momus an und schreit zu Schaunard und Collin.
Zum Essen!
SCHAUNARD UND COLLIN.
Rudolf?
MARCEL.
Dort im Laden der Modistin …

Marcel, Schaunard und Collin schauen sich nach einem freien Tisch um, aber überall vor dem Café sitzen ehrbare Bürger. Sie sehen diese wütend an und gehen ins Café Momus hinein.

Collin, Schaunard und Marcel treten aus dem Café, einen Tisch tragend: der Kellner folgt mit Stühlen, die Bürger, die draußen saßen, gehen, durch den Lärm der drei Freunde gestört, hinweg.

COLLIN.
Alltagsgesichter hass‘ ich, sagt Horaz schon …
SCHAUNARD.
Und ich will, wenn ich esse,
Reichlich Platz dazu haben …
MARCEL zum Kellner.
Ein köstlich Abendessen schafft uns.
Hurtig!

Rudolf und Mimi kommen wieder hervor. Mimi beobachtet neugierig eine Studentengruppe.

RUDOLF mit sanftem Vorwurf, seitwärts, durch die Menge von den Freunden noch getrennt.
Was schaust du?
MIMI.
Bist du eifersüchtig?
RUDOLF.
Ist einer glücklich, soll er da nicht fürchten?
MIMI.
So bist du glücklich, Freund?
RUDOLF Mimis Arm zärtlich drückend.
Ja! Wenn so mich trifft dein Blick!
…Und du?
MIMI hingebend.
… Du bist mein Glück! …

Unterdes haben vor dem Café die Freunde sich eingerichtet und durch vorlaute Reibereien und Anzüglichkeiten die Philister verdrängt.

SCHAUNARD.
Bringt reichlich …

Kellner eilen hin und her, immer von den Gästen angerufen; sie tragen Teller, Geschirr, Wein usw. und decken die Tische. Rudolf und Mimi sind bis zum Café vorgedrungen.

RUDOLF zum Kellner.
Noch zwei Plätze …

Währenddessen hört man hinter der Szene, noch entfernt, die Rufe des Spielwarenhausierers.

PARPIGNOL.
Leute! Kauft Spielsachen von Parpignol!

Rudolf tritt zum Tisch der Freunde und stellt ihnen Mimi vor.

COLLIN.
Nun denn – endlich!
RUDOLF.
Ja, wir sind’s selbst …
Dieses ist Mimi: Selbst eine Blume,
Weiß Blumen sie zu sticken!
Sie fehlt‘ der Tafelrunde;
Denn ich, als Poet hier im Bunde,
Will Poesie stets erblicken!
Aus meiner Brust quellen Lieder,
Blumen entsprießen ihrer Hand,
Von Liebe hallt es wider,
Wenn sich ein Herz zum Herzen fand!

Die Freunde lachen.

MARCEL spöttisch.
Gott – welch erhab’nes Pathos!
COLLIN feierlich auf Mimi zeigend.
»Digna est intrari« …
SCHAUNARD mit komischem Ernst.
»Ingrediat si necessit« …
COLLIN.
Gut! Sie ist aufgenommen!

Alle setzen sich zu Tisch, der Kellner erscheint wieder, und Collin ruft ihm zu.

Mir Würstchen!

Die Menge

PARPIGNOL jetzt ganz nahe.
Kauft, Leute, Spielzeug von Parpignol,

Knaben und Mädchen hinter der Szene.

Parpignol, Parpignol, Parpignol!

Von der Delphinstraße her erscheint ein großer Schubkarren, der mit Blumen und Bändern reich aufgeputzt und mit bunten Lampions beleuchtet ist, geführt von dem bekannten Spielwarenhändler Parpignol, den die Kinder neugierig, fröhlich und bewundernd umringen.

DIE KINDER.
Seht Parpignol, Parpignol, Parpignol,
Dessen Karren hoch ist des Spielzeugs voll!

Durcheinander.

Ah, die Trompete hätt‘ ich gern! …
Ich die Trommel mit Stern …
Ich lieb‘ Gewehr und Peitschenknall …
Ich Soldaten zumal …

Zu den Knaben und Mädchen, welche lebhaft gestikulierend den Wagen Parpignols umspringen, kommen die Mütter gelaufen, um die Kinder nach Hause wegzuführen; diese schreien, weinen und sträuben sich.

Die Freunde

Die Freunde haben vom Kellner die Speisekarte erhalten, welche sie mit tiefer Andacht studieren.

SCHAUNARD.
Schöpsenbraten …
MARCEL.
Feister Truthahn …
SCHAUNARD.
Feine Weine!
COLLIN.
Ja, vom Rheine!
SCHAUNARD.
Hummer gibt’s mit Remoulade.
RUDOLF.
Und was wünschst Mimi du?
MIMI.
Nur Crème …
SCHAUNARD mit größter Wichtigkeit zum Kellner, welcher sich alles notierte.
Und fein sorgsam … ’s ist ’ne Dame.

Auf Mimi wichtig weisend.

MARCEL.
Sagt uns doch, Fräulein Mimi, was hat Schönes
Euch Euer Freund verehrt?
MIMI ein Häubchen zeigend.
Ein Häubchen rosafarben, reich geschmückt mit Spitzen, Blumen,
Verschmelzt sich gut mit meinen braunen Haaren;
Gar lange schon wünscht‘ ich mir solch zierlich, niedlich Häubchen,
Und er erriet sogleich des Herzens Wünsche.
Wer nun in Herzen lesen kann, der kennt die Liebe
Und ist gar feiner Leser.
SCHAUNARD.
Erfahrener Lehrer.
COLLIN auf die Idee Schaunards eingehend.
Er ist kein Neuling und versteht es, schöne
Verse zu schreiben.
DIE MÜTTER DER KLEINEN durcheinander.

Drohend und bemüht, die Kinder mitzunehmen.

Gelichter, wollt ihr gleich mit uns
Nach Hause gehn?
Was habt ihr hier zu tun?
Die Rute sollt ihr sehn!
Nach Hause, fort, zu Bette, marsch!
Ihr schlimme Brut.
Sonst zieht man andre Saiten auf!
Folgt doch gut …
Nach Hause – zum Vater – marsch
Ah – wenn ich euch hätte!
Zu Bette!

Während die Mütter den Kindern nachjagen, fängt eine Mutter einen Kleinen und faßt ihn am Ohr.

EIN KLEINER weinend.
»Will das Pferd und die Trompete …«

Eine andere Mutter, mitleidig, kauft bei Parpignol einiges Spielzeug; die Kinder springen vor Freude und nehmen die Sachen an sich. Unter dem Jubel der Kleinen zieht Parpignol ab.

SCHAUNARD unterbrechend.
Und mit der Wahrheit Scheine zu umgeben.
MARCEL sieht Mimi an.
O wonnevolle Zeit der schönen Träume!
Wo Glaub‘ und Hoffnung im Herzen leben!
RUDOLF.
O Freund, die hehrste aller Poesien
Ist die, die uns zu lieben lehrt, zu lieben!
MIMI.
Die Liebe ist ja süßer noch als Honig!
MARCEL.
Ein jeder ist anders, schmeckt Honig oder Galle!
MIMI überrascht zu Rudolf.
Ich hab‘ ihn beleidigt!
RUDOLF.
Er trägt Trauer, liebes Kind.

Um das Gespräch zu wenden.

SCHAUNARD UND COLLIN.
Erschalle ein Toast!
MARCEL zum Kellner.
Zu trinken bringt!
MIMI, RUDOLF UND MARCEL.
Verjagt die Sorgen,
Hoch der Wein! Stoßt an!
SCHAUNARD UND COLLIN.
Stoßt an!

Während des Verhandelns mit dem Kellner hat sich Marcel ein wenig gewendet, so daß er in die Seitenstraße sehen kann.

MARCEL schreiend.

Blickt in die Mazzarinstraße, wirft sich auf einen Stuhl und schreit dem sich nähernden Kellner zu. An der Ecke der Straße Mazzarin erscheint eine sehr schön aufgeputzte Dame mit reizendem Lächeln, gefolgt von einem alten, burlesken, vornehm gekleideten Herrn, der sich sehr anspruchsvoll benimmt.

Und mir eine Flasche Gift!
LADENBESITZER durcheinander, nachdem sie Musetten erblickt und erkannt.
Dort! – Sie! – Ja!
»Musette!« – »Sie selbst!«
»Sie schwimmt oben!«
»Welche Kleidung!«
DIE KINDER hinter der Bühne.
Vivat Parpignol, Parpignol, Parpignol!
Rataplan, Rataplan!
Die Schwadron rückt an …
MÄDCHEN UND STUDENTEN die Szene überschreitend.
Seht doch, seht, ist das denn wirklich
Und fürwahr Musette?
Die mit jenem alten Sünder
Buhlet um die Wette! …

Lachen.

Ha, ha, ha!
DIE FREUNDE erstaunt.
Ah! Musette!
MARCEL.
Sie selbst!
ALCINDOR DE MITONNEAUX atemlos tritt Alcindor, mit eilenden Schritten Musette in die Szene; sie sucht offenbar nach jemandem.
Grad wie ein Dienstmann
Rennen, ach – hin und her,
Nein, nein – das geht nicht mehr,
Ah, das ist zu viel,
Ist nur frevles Spiel …

Musette ist rasch, ohne ihn zu beachten, eingetreten und sucht spähend. Sie sieht die Freunde vor dem Café und bedeutet Alcindor, an dem Tische Platz zu nehmen, den die Bürger frei gelassen.

Sitzen? Hier draußen, im Wind?
MUSETTE wie zu einem Hündchen.
Setz dich, Lulu!
ALCINDOR murrend.
Laß doch die Spitznamen, die mich verdrießen,
Bis allein wir sind …
MUSETTE.
Du Blaubart – gleich sei still …

Setzt sich an den Tisch mit dem Gesicht gegen das Kaffeehaus. Ein Kellner kommt und deckt für beide den Tisch und bringt später das Essen. Sie ärgert sich, daß die Freunde am Tisch sie nicht beachten.

COLLIN Alcindor beobachtend.
Ergraut ist der im Laster …
MARCEL verächtlich.
Bei der keuschen Susanne.
MIMI zu Rudolf.
Wie sie schön gekleidet …
RUDOLF.
Nicht Seide tragen Engel.
MIMI neugierig.
Weißt du nicht, wer sie ist?
MARCEL.
Fragt nur mich, was Ihr nicht wißt!
Sie heißt harmlos »Musette« …
Doch lebt sie von Verführung!

Für sich und zu den Freunden.

Ihr tägliches Werk ist,
Nach dem Wind sich zu richten,
Keck zu spielen mit »Liebe«
Und mit Liebesgeschichten.
Sie gleicht etwas der Eule,
Vom Raube nächt’ger Weile
Lebt sie, und braucht zur Nahrung
Ein Herz stets …
Musette ißt Herzen.

Mit Bitterkeit.

Drum hab‘ kein Herz ich mehr …
MUSETTE für sich.
Marcel sah mich sicher,
Tut nicht desgleichen; der Feigling!

Immer gereizter.

Jener Schaunard lacht gar …!
Wen ich seh‘, macht mir Ärger …
… Warum schlag‘ ich ihn nicht
Und zerkratz‘ sein Gesicht?
Vorderhand bin schlimm ich dran,
Hab nur diesen Pelikan.
Na, wart‘ nur,

Schreiend.

He – Kellner! He!
MARCEL.
Kellner, bringt mir Ragout!
MUSETTE an den Speisen riechend.
He! Kellner, hört!
Dies Gericht schmeckt, als wenn’s
Stark aufgewärmt wäre …

Wirft wütend den Teller zu Boden; der Kellner liest die Scherben auf.

ALCINDOR Musette zurückhaltend.
Ruhig, Musette – immer ruhig!
MUSETTE sieht, daß Marcel absichtlich sich nicht umdreht.
Er bleibt tückisch! …
ALCINDOR komisch verzweifelt.
Ruhig! Stets den Anstand muß man wahren …
MUSETTE.
… Kann mich kaum zügeln …
ALCINDOR.
Sag, was hast du?
MUSETTE zornig.
Könnt‘ ich den Menschen doch prügeln …
ALCINDOR.
Mit wem sprichst du?
MUSETTE.
Ach, mit dem Kellner, laß mich gehn!

Ungeduldig.

Wer will mich dran hindern?
Den möcht‘ ich sehn!
ALCINDOR.
Ruhig nur …
Sprich doch leis‘,
Wie sich’s schickt …
MUSETTE.
Was mir gefällt, das tu ich,
Hol der Kuckuck Eu’r ewiges »ruhig«!

Alcindor nimmt die Speisekarte und setzt sich lesend hin. In diesem Augenblick durchkreuzen eine Schar Grisetten und Studenten die Bühne und bleiben, als sie Musette erkennen, plötzlich stehen.

MUSETTE.
Eifersucht zollt er
Der Vogelscheuche?
Laß seh’n, ob ich Macht hab‘,
Daß meinem Willen er sich endlich beuge!
SCHAUNARD.
Die Komödie ist prachtvoll!
Ist der Fall nicht entzückend?
COLLIN.
… Entzückend!
SCHAUNARD.
Mit einem spricht sie, den andern zu betören.
COLLIN.
Und dieser stellt sich dumm, saugt Honig
Aus, und ist nicht zu stören!
RUDOLF.
Wisse als Regel: daß ich im Leben
Nimmer Untreu könnt‘ vergeben!
MIMI.
Wie ich dich liebe, werd‘ nimmer ich mich ändern,
Und da sprichst du von »Verzeihen«?
COLLIN.
Ein Gedicht ist dies Hühnchen
Und voll Arom‘ der Wein …
MIMI zu Rudolf.
Das seh‘ ich klar, daß jene Unglücksel’ge
Für deinen Freund Marcel
In toller Liebe glüht …
Und aus dem Schmerz, den sie sich machet,
Nur immer neue Nahrung zieht …
ALCINDOR unterbricht ab und zu seine Speisekartenstudien, um Musette, die mehr und mehr sich aufregt, zu beruhigen.
Denk doch der »Sitte« – des »Standes«,
Der »Tugend« …
MUSETTE Marcel beobachtend, mit erhobener Stimme.
Du willst mich nicht sehen?

Von hier beziehen Marcel und Musette alle Reden auf sich selber.

ALCINDOR im Glauben, Musette habe zu ihm gesprochen, antwortet er sehr geschmeichelt.
Ich bin grad beim Bestellen jetzt …
MUSETTE.
Fühlst dein Herz laut du schlagen?
Scheust dich, es zu sagen? …
ALCINDOR.
Sprecht doch leiser!
Leiser, leiser!
MUSETTE immer sitzend, auf Marcel anspielend, der bereits unruhig wird.
Will ich allein des Abends
In Paris mich ergeh’n,
Bewund’rung ich errege,
Und meine Schönheit prüfen
Und meine Schönheit preisen
All die Leute, die mich seh’n.
MARCEL zu den Freunden, schon arg verwirrt.
Ihr Freunde! Macht am Stuhl mich fest.
ALCINDOR der alles auf sich bezieht, wie auf Kohlen sitzend.
Was denken wohl die fremden Herrn! …
MUSETTE fährt fort.
Und das – das schmeichelt mir,
Froh bin ich, folgt mir dreist
Jedes Aug‘ voller Gier!
Und wenn man die Schönheit und die zarte Anmut
Meiner Reize preist, –

Sich aufrichtend.

Ich rings Bewunderung erzeuge,
Dann weiß ich auch:
Entzückend erschein‘ ich,
Und das macht mich glücklich!
ALCINDOR nähert sich Musette und will sie zum Schweigen bringen.
Wer wird so sich zeigen?
Mir erregt’s die Galle!
Zeit wär’s jetzt, zu schweigen!
MUSETTE fortfahrend.
Und du, der mich kennt,
Der noch schwelgt in meinen Küssen,
Willst nichts mehr von mir wissen?
Doch sieh: du willst die Pein
Vor mir nicht klagen,
Doch fühlst du dich zum Sterben müd‘!

Schaunard und Collin stehen auf und treten beobachtend auf die Seite. Rudolf und Mimi bleiben bei ihrer Unterhaltung. Marcel, immer unruhiger, hat seinen Platz verlassen und möchte fliehen, ist aber von Musette vollkommen gefesselt. Alcindor sucht vergeblich Musette zum Niedersitzen am gedeckten Tisch und zum Essen zu bewegen.

RUDOLF zu Mimi.
Marcel hat sie geliebt!
Doch aus Leichtsinn verließ sie ihn,
Um sich reicher zu placieren!
SCHAUNARD.
Seht Marcel – er gibt ihr nach …
COLLIN.
Wer kann sagen, was geschieht?
SCHAUNARD.
Er bedarf das Maltraitieren …
Tät sie’s nicht, wär‘ er betrübt!
COLLIN.
Götter, schützt mich vor Verrücktheit,
Collin, verlieb‘ dich nie!
MUSETTE.
Ha – Marcel wird schwankend,
Ich hab‘ ihn besiegt schon …
ALCINDOR.
Nicht so laut …
Ruhig – ruhig …
SCHAUNARD.
Seht den Prahlhans; da erliegt er schon.
Der Fall ist fast zum Lachen …
Marcel – ermanne dich!

Ensemble

Der Unglückselige! Er tut mir wahrhaft leid!
MIMI sich an Rudolf schmiegend.
Dich lieb ich!
RUDOLF sie umarmend.
Mimi!
MIMI.
Der Liebesundank ist der tiefste Schmerz.
Wer diesen fühlt, dem bricht
Ob diesem ungekannten Leid
Das arme Herz …
MUSETTE.
Ich kenne deinen Unmut schon,
Den du verschweigst.
Eh‘ bricht dein Herz, als du dich beugst.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ALCINDOR.
Halte Maß doch …
Sei doch ruhig! …
MUSETTE gegen Alcindor, der sie immer mahnt, sich auflehnend.
Was mir gefällt, das einzig tu ich.
Will nur sprechen, was mir gut dünkt.
Laß mich geh’n.
Höre auf, quäl mich nicht …
COLLIN.
Schön ist sie – das sieht ein Blinder.
Doch meine Pfeife zieh‘ ich mir vor
Und meine Griechen! Von »Plato« klingt’s im Ohr!
Philosophie erhält
Geist und Welt;
Doch Weibergunst
Geht vorbei wie blauer Dunst!
RUDOLF.
Die Liebe muß
Zu rächen sich wissen.
Erlosch’ne Freuden blüh’n nimmer neu.
Das Schicksal reißt mit rauhen Händen
Oft das stärkste Band jäh entzwei!
SCHAUNARD UND COLLIN.
Marcel gibt wahrlich nach!
SCHAUNARD zu Collin.
Wenn ein ätherisch Wesen
Ganz alleine bei dir wär‘
Würdst du schwerlich Griechisch lesen,
Würfst zum Teufel die »Grammaire«!
MUSETTE.
Mich befrei’n muß ich mich jetzt von dem Alten!

Sie tut, als ob sie große Schmerzen am Fuße empfände, und setzt sich plötzlich nieder.

Weh mir! …
ALCINDOR.
Was gibt’s?
MUSETTE.
Welche Schmerzen, welches Brennen …
ALCINDOR.
Wo denn?
MUSETTE.
Am Fuß!

Mit Koketterie den Fuß vorzeigend.

Alcindor bückt sich, um Musette den Schuh auszuziehen.

MUSETTE schreiend.
Schnür den Schuh auf …
Reiße – schneide …
Ich beschwör‘ dich …
ALCINDOR.
Gott, wie unklug …
Was wird man dazu wohl sagen?
MUSETTE.
Gar nicht weit, da wohnt ein Schuster.
Zu dem laufe!
Ein anderes Paar Schuh
Schnell geh und kaufe …
Wie verwünscht die Enge drückt,
Hilf doch ausziehn …

Legt den Schuh, den sie auszieht, auf den Tisch.

Ungeduldig.

Da liegt er – ah!
Laufe rasch – eil dich! …
Schnell mach fort! – Geh!
ALCINDOR möchte Musette noch beruhigen.
Meine Stellung soll ich so verleugnen!

Plötzlich erschreckt, da sie ihn drohend ansieht.

Ja, ja, doch, Musette … ich tu’s!

Er steckt den Schuh unter die Weste, knöpft den Rock darüber und läuft eilig fort.

MARCEL.
Goldene Jugend, du bist noch nicht gestorben,
Du lebst als Erinnerung.
Und wenn du klopfst an meine Tür,
Würd‘ mein Herz dir öffnen für und für,
Und ich – würd‘ wieder jung …
RUDOLF, SCHAUNARD UND COLLIN.
Die Komödie nimmt den seltsamsten Lauf,
Marcel gibt zu raten uns auf!
MIMI.
Ich seh‘, daß sie betrübt ist
Und in Marcel verliebt ist …

Nachdem Alcindor fort ist, fallen sich Marcel und Musette begeistert in die Arme.

MUSETTE.
Marcel – ah!
MARCEL.
Sirene!
SCHAUNARD.
Das war die letzte Szene!

Der Kellner bringt die Rechnung.

RUDOLF, SCHAUNARD UND COLLIN alle überrascht.
Die Rechnung!
SCHAUNARD.
Und so eilig?
COLLIN.
Wer hat sie verlangt?
SCHAUNARD zum Kellner.
’s ist gut …

Von fern hört man Trommeln; die Wachtparade ist im Anzuge und kommt nach und nach näher.

RUDOLF UND COLLIN die Rechnung durchle send.
Teuer! …
ALLE DREI in den leeren Taschen suchend.
Geld gilt’s zu schaffen.
SCHAUNARD fragend.
Collin! Rudolf! Du, Marcel!
MARCEL.
Wir sitzen im Trocknen!
SCHAUNARD.
Wirklich?
RUDOLF.
Grad dreißig Sous besitz‘ ich …

Alle entsetzt stillstehend.

SCHAUNARD erschrocken.
Wie das? Kein Geld mehr da?
Das viele Geld wär‘ fort?

Alle suchen in den Taschen, die indes ganz leer sind; keiner begreift das Verschwinden des Schaunardschen Geldes; sie sehen sich hilflos an.

MÄDCHEN UND STUDENTEN treten aus dem Café Momus und durchkreuzen die Bühne, ausschauend, von wo die Soldaten kommen.
Die Wachtparade!
GASSENBUBEN von rechts auf die Bühne stürmend.
Die Wachtparade!
BÜRGER UND FRAUEN, VERKÄUFER die von links hereintreten, suchen ebenfalls die Richtung zu erkennen, von wo die Wache kommen soll.
Die Wachtparade!
GASSENBUBEN.
Sicher kommen sie von dort …
STUDENTEN UND MÄDCHEN.
Nein, von da …
Gebt den Platz frei,
Macht euch fort!
KINDER UND MÄDCHEN aus den Fenstern durcheinander.
»Laßt mich doch sehn« –
»Wie klingt das schön!«
»Mutter, ich bin schon groß« –
»Papa, laß mich doch los!«
»Lisettchen, schweige fein« –
»Toni, sollst ruhig sein!«
BÜRGER, FRAUEN UND VERKÄUFER.
Jetzt hört man den Schall von da …
ALLE.
Ja, ganz nah‘!
BUBEN.
Genau nach der Truppe Schritte
Folgen gern wir in gleichem Tritte.
VERKÄUFER zu einigen Bürgern.
Der Trommel Wirbel ruft:
Heil des Landes Majestät.

Alles sieht nach links, wo die Wache zur Straßenkreuzung heranzieht. Die Menge bildet zwei Flügel. Die Freunde mit Mimi und Musette stehen in einer Gruppe vor dem Café Momus.

ALLE.
Jetzt heißt’s ernstlich Platz gemacht,
Habt acht!
DIE MENGE DURCHEINANDER bewundernd.
Des Tambourmajors Szepter
Führt glänzend zum Siege hinan!
MIMI, MUSETTE UND RUDOLF.
Vorwärts, vorwärts, vorwärts!
DIE MENGE.
Der Tambourmajor! Die Sappeure seht!
Wie ein General! Die Wachtparade seht!
Da ist er nun, der schöne Tambourmajor!
Sein gold’ner Stab ist eitel Glanz!
Er schreitet stolz einher!
So stramm und stolz! Ist Frankreichs schönster Mann!
Da ist er nun und schreitet stolz einher!
DIE FREUNDE.
Hoch, hoch, Musette! Schelmisches Kind …
Freude und Stolz, und Stolz und Freude
Des Quartier Latin!
MUSETTE zum Kellner.
Meine Rechnung reicht mir her.
Gut so …

Nachdem es geschehen.

Schnell zählt die Rechnung beide zusammen.

Der Kellner addiert.

Alles bezahlt der Herr, der mit mir kam!

Sie zeigt leichthin nach dort, wo Alcindor abging.

DIE VIER FREUNDE komisch spottend.
Ha! Er bezahlt!!

Unter sich, sich belustigend; der Kellner überreicht Musetten die zwei zusammengefalteten Rechnungen, und diese legt sie auf den Tisch an Alcindors Platz.

Wo der Herr gesessen hat,
Mag dieser Gruß von uns ihn necken!

Alle wiederholen.

Dort nahet die Parade!
Der Alte soll nicht sehn,
Wer die Beute ihm entrissen!
Solches Gedränge paßt gerade,
Um hier sich zu verstecken!

Von links tritt die Wachtparade in die Szene; voran ein gigantischer Tambourmajor, der mit Würde und Stolz seinen Kommandostab führt, den Weg weisend. Alles zieht den Soldaten bewundernd und lobpreisend lebhaft nach. Da Musette nicht gehen kann, weil sie nur einen Schuh anhat, wird sie von Marcel und Collin durch die Menge getragen. Die Menge, dies sehend, applaudiert Musetten. Gleich hinter der Wache gehen Marcel und Collin mit Musette; dann folgen Rudolf und Mimi Arm in Arm, und Schaunard sein Horn blasend. Stürmend und lachend kommen die Studenten und Mädchen herbei, ordnen sich dann aber den anderen ein und gehen streng im Marschschritt mit den Soldaten fort. Dann erst kommt Alcindor mit einem Paket (dem Paar Schuhe) zum Café Momus zurück. Er sucht Musette; der Kellner nimmt die von Musette deponierte Rechnung, die er Alcindor mit der größten Höflichkeit überreicht. Dieser, die Summe lesend, fällt auf der nun leeren Szene entsetzt in einen Stuhl. Die Musik klingt immer schwächer und ist bald ganz unhörbar.

Der Vorhang fällt.

Ende des II. Bildes

Drittes Bild

Mimis Stimme hatte einen Klang, der wie das langsame Anschlagen einer Totenglocke in Rudolfs Herz drang.
Er hatte für sie eine eigensinnige, phantastische und eifersüchtige, hysterische Neigung.
Unzählige Male waren sie auf dem Punkt, auseinander zu gehen.
Man darf sagen, daß dies Dasein einer Hölle glich. Aber zwischen den Stürmen ihrer Streitigkeiten gab es friedliche Oasen, wo sie wieder frischen Atem schöpften … bis wieder ein Gewitter losbrach und die Liebe abermals erschrocken von dannen floh.
In dieser Weise lebten sie, wenn man das Leben heißen mag, immer zwischen bösen und guten Tagen, in der ewigen Erwartung der Trennungsstunde.
»Musette hatte, sei es durch Familientradition oder durch persönlichen Instinkt, die Neigung zur Eleganz.
Das sonderbare Geschöpf hat gewiß, kaum geboren, einen Spiegel verlangt.
Klug und scharfsinnig, war sie rebellisch gegen alles, was den Anschein von Tyrannei hatte. Sie kannte nur ein Gesetz, die Laune.
Zweifellos war der einzige Mann, den sie geliebt hatte, Marcel; vielleicht weil er allein die Fähigkeit besaß, sie zu kränken.
Aber der Luxus war für sie eine Notwendigkeit des Wohlbefindens.«

Die Barrière d’Enfer

Jenseits der Zollschranke sieht man den äußeren Boulevard und ganz hinten die Chaussee d’Orleans, welche zwischen hohen Häusern im Februarnebel verschwindet. Vor der Zollbarriere links ein kleines, geringes Wirtshaus und davor ein kleiner Platz. Rechts der Boulevard d’Enfer, links der Boulevard St. Jacques. Ebenfalls rechts der Anfang der Enfer-Straße, die in das Quartier Latin führt.

Die kleine Kneipe hat als Wirtsschild das Bild Marcels »Der Zug durchs Rote Meer«. Aber anstatt dieses Titels steht darunter »Zum Hafen von Marseiile«. Auf die Flügel der Türe sind ein »Turko« und ein »Zuave« al fresco hingemalt, beide mit großen Lorbeerkränzen um das Fez. Die Mauer der Kneipe, welche nach der Zollwache sieht, hat ein Fenster im Parterre, von welchem ein rötliches Licht herausstrahlt.

Die Platanen, welche den Platz umsäumen und nach dem Boulevard als Allee sich fortpflanzen, stehen grau und kahl. Zwischen je zwei Bäumen eine Marmorbank. Es ist Februar, alles tief verschneit.

Wenn der Vorhang aufgeht, herrscht eine weißlich dämmernde Morgenbeleuchtung. Um ein Kohlenbecken sitzen eingeschlafen die Zollbeamten. Aus der Kneipe tönt Schreien, Lachen, Gläserklirren. Ein Zollbeamter tritt eben heraus mit Wein. Das Zollgitter ist geschlossen. Jenseits des Zollgitters stehen Straßenarbeiter, die mit den Füßen aufstampfen, um sich zu erwärmen, und in die eiskalten Hände pusten.

DIE STRASSENKEHRER schreien.
He, hollah – Ihr Wächter!
Macht auf!

Die Zollbeamten rühren sich nicht; die Arbeiter klopfen mit Besen und Schaufeln und schreien lauter.

Heda! Den Straßenkehrern öffnet!
Wir kommen von Gentilly!

Mit den Füßen stampfend.

Hui! wie der Schnee tut …

Schreiend.

Ihr da! Wir erfrieren …
EIN ZOLLWÄCHTER schläfrig, die Arme reckend.
Ich komme!

Er öffnet das Gittertor; die Arbeiter treten hinein und gehen nach der Rue d’Enfer weiter; der Beamte macht das Gittertor wieder zu.

AUS DER KNEIPE von Gläserklirren begleitet.
Wer als Trinker im vollen Glas
Vergessen sucht von allem Erdenleid –
Der ist gefeit in Ewigkeit –
Im Wein steckt Liebesseligkeit – Ah!
MUSETTE.
Und wenn im Glas nur Freundschaft steckt,
Sie wird zur Liebe aufgeweckt
Vom Wein!
Trallerala, Trallerala!
Eva, Noah!

Lautes Gelächter aus der Schenke.

MILCHFRAUEN hinter der Szene geschrien, nicht gesungen.
Hoppla! Hoppla!

Von der Hauptwache tritt der Sergeant hinzu und befiehlt, die Barriere zu öffnen.

ZOLLBEAMTER.
Die Milchfrauen sind schon zeitig da.

Es ertönen die Schellen fahrender Wagen; die Frauen treten ein und zerstreuen sich in verschiedenen Richtungen.

KARRENFÜHRER mit Wagen, die mit Leinwand überspannt sind, an den Rädern große Laternen.
Hoppla!

Peitschenknallen. Die Nebel verziehen sich, der Tag graut. Nach und nach viele Menschen, Bäuerinnen mit Körben usw.

DURCHEINANDER.
Guten Morgen …
… Käse, Butter …
… Eier und Hühner …
Wohin führt Euch der Weg heut?
Nach St. Michaele!
Wollen wir uns später treffen?
Zu Mittag, ja!

An der Zollschranke, wo die Körbe durchsucht werden, deklarieren und zahlen die Leute und gehen dann nach allen Richtungen weiter. Die Zollbeamten schaffen Kohlenbecken und Bänke weg. Mimi kommt von der Rue d’Enfer; sie tritt hinzu und sucht die Lokalität wiederzuerkennen; sie forscht nach etwas; bei den Platanen bekommt sie einen Hustenanfall, faßt sich aber schnell und tritt zu dem Zollunteroffizier, den sie eben erblickt.

MIMI aufgeregt zum Zollbeamten.
Entschuldigt – wißt Ihr
Nah hier eine Schenke,
Wo ein Künstler jetzt malet?
SERGEANT nach der kleinen Taverne weisend.
Diese ist’s …
MIMI.
Danke!

Eine Magd tritt aus der Schenke; Mimi nähert sich ihr, sie hustet.

Ach, gute Frau, habt für mich doch die Güte,
Mir den Maler Marcel herzurufen.
Ich muß ihn sprechen. Ich bin sehr eilig.
Sagt ihm leise, daß hier Mimi wartet.

Die Frau geht in die Schenke zurück.

SERGEANT zu einem Passanten der Straße.
He! Zeigt den Korb her!

Die Beamten untersuchen den Korb.

ZOLLBEAMTER.
Ganz leer …
SERGEANT.
Passiert!

Durch die Barriere treten immer mehr Leute und gehen in verschiedene Straßen. Von dem Hospiz Maria Theresia läutet die Morgenglocke zur Messe. Es ist Tag geworden, ein trüber, grauer Wintertag. Aus der Kneipe gehen die letzten Gäste nach Hause.

MARCEL kommt aus der Schenke; er sieht Mimi und ist sehr überrascht.
Mimi?
MIMI.
Ich hoffte Euch zu finden hier …
MARCEL.
Seit einem Monat sind wir
Hier des Wirtes Gäste,
Musette lehrt die Singkunst
Nachbarn aufs beste.
Ich mal‘ die stolzen Krieger
Hier auf die Türwand …

Zeigt auf die Turkos.

’s ist frostig – kommt herein doch.
MIMI.
Rudolf ist dort?
MARCEL.
Ja!
MIMI.
Dann trete ich nicht ein!
MARCEL.
Wieso?
MIMI verzweifelt.
Bester Marcel, ach, helft mir,
Ach, helft mir …
MARCEL.
Was ist geschehen?
MIMI.
Ach, Rudolf liebt mich von Herzen,
Doch flieht er vor mir, will mich nicht sehen,
Und er verzehrt sich in toller Eifersucht.
Ein Schritt, ein Wort nur, ’ne Schmeichelei
Nennt er mißtrauend »Untreu«,
Die wütend er an mir verflucht …
Ich stellt‘ mich manchmal, als ob fest ich schliefe;
Dann hört‘ ich, wie er seufzend träumt‘
Aus seines Herzens Tiefe.
Und traurig klang sein Wort:
Daß wir uns geirrt, ’nen andern
Möcht ich suchen; ich solle fort.
O weh! Was tun?
Er spricht nur in der Wut, ich weiß, –
Doch was, Marcel, beginn‘ ich nun?
MARCEL.
Wenn es so mit Euch beiden steht.
Nun, dann lebt doch nicht zusammen …
MIMI.
Das ist wahr – Scheiden hilft,
Wenn erloschen die Flammen.
Drum steht Ihr uns bei der Trennung bei;
Wir haben oft sie versucht schon,
Doch – vergebens …
MARCEL.
Seht! Ich bin für Musette
Leicht zu tragen, wie sie für mich,
Da ich lachen kann.
Nur die singende, lachende
Liebe hält an!
MIMI.
Ja, so sei’s – Ihr habt recht,
Der Schritt gescheh‘,
Daß ein End‘ man doch seh‘ …
MARCEL.
Nun wohl – es sei,
Ich werd‘ ihn wecken.
MIMI.
Schläft er?
MARCEL.
Heute früh plötzlich, vor des Tages Grauen
Kam er her, zu kurzem Schlafe.

Zeigt durch das Fenster in den erhellten Raum der Schenke.

Seht selbst hin.
MIMI hustet heftig.
MARCEL mitleidig.
Welch ein Husten …
MIMI.
Ich fühl – mir geht es schlecht!
Heute nacht stürmt‘ er hinaus,
Und sein Abschied war:
»Nun sei alles aus! …«
Beim Morgengrauen lief ich schon
Hierher, um Euch zu sehen …
MARCEL beobachtet Rudolf durchs Fenster.
Er erwacht, er erhebt sich, er vermißt mich,
Jetzt kommt er …
MIMI schnell.
Nein, laßt mich gehen …
MARCEL.
Jetzt geht nach Hause, um Gotteswillen geht!
Macht keine Szene hier!

Marcel drängt sanft Mimi hinter die Schenke, bald aber sieht man sie neugierig hervorgucken.

Marcel geht Rudolf entgegen.

RUDOLF tritt aus der Kneipe und geht rasch zu Marcel.
Marcel! Da bist du endlich!
Ich muß bekennen:
Es geht nicht mehr! Ich muß von ihr
Mich trennen!
MARCEL.
Denkst du darob so leicht?
RUDOLF.
Manchmal schon früher
Da wähnt‘ ich tot schon mein Herz.
Doch in dem Strahl der azurblauen Augen
Lebt es neu auf! Der Liebesschmerz
Ach! Er faßt mich jetzt schon wieder …

Vorsichtig tritt Mimi näher, um zu lauschen.

MARCEL.
Und begräbst dann dein Herz abermals?
RUDOLF.
Auf ewig! …
MARCEL.
Du gehst irre!
Nur Narren lieben traurig
Mit Stöhnen und mit Tränen!
Strahlend soll die Lieb‘ und lachend
Das Dasein uns verschönen!
Kennst du die Eifersucht?
RUDOLF.
Ein wenig …
MARCEL.
Bist zornig, schnell und ungerecht,
Voll von Vorurteil und Mißtrau’n,
Von Launen und Härten!
MIMI.
Jetzt befällt ihn die Wut.

Erschrocken für sich.

Ich Unglücksel’ge …
RUDOLF.
Kokett ist dieses Mädchen,

Mit bitt’rer Schärfe.

Treibt ihr Spiel keck mit allen.

Immer erregter.

Macht ein Baron ihr, ein Dummkopf, den Hof
Und schmeichelt, sie hab‘ ihm gefallen –

Bitter.

Dann kommt sie lächelnd und skrupellos
Entgegen möglichst weit,
Heuchelt jede Zärtlichkeit …
MARCEL.
Die Wahrheit sag:
Bist du aufrichtig jetzt?
RUDOLF.
So hör denn: Nein, ich bin’s nicht.

Nach einigem Besinnen.

Umsonst tracht‘ ich, zu verhehlen
Dinge, die tief mich quälen:
Heiß liebe ich! Und Mimi ist auf Erden
Mein Abgott!

Mimi verrät ihre Rührung.

Doch sieh‘ – ich fürchte …

Mimi, erstaunt, tritt ganz nahe herzu, aber immer hinter den Bäumen verborgen bleibend.

Mehr noch, ich weiß es:

Traurig.

Sie hustet, ist krank, leider tödlich,
Langsam seh ich sie schwinden,
Und kurz bemeß ich ihre Lebensdauer.
MIMI für sich, nicht verstehend.
Was mag er sagen?
MARCEL fürchtend, daß Mimi verstanden haben könne, möchte er Rudolf entfernen.

Leise.

Hör‘, Rudolf!
RUDOLF ohne ihn zu beachten.
Schrecklich klingt dieser Husten,
Der die Brust ihr erschüttert;
Und das Rot der Wangen
Ist ein Kuß des Todes.
MARCEL bemerkt ängstlich, daß Mimi verstanden hat.
Schweig‘ doch …
MIMI weinend, leise für sich.
Gott, so früh zu sterben?
RUDOLF fortfahrend.
Sieh, mein Zimmer ist eine Höhle nur;
Nie brennt dort Feuer,
Und bitterkalt der Nordwind
Pfeift durch Tür‘ und Gemäuer …
Fröhlich singt sie und lacht gar,
Doch mich peinigt die Reue,
Daß den Keim ich der Krankheit
Schüre aufs neue.
MARCEL peinlich verlegen.
Laß uns doch gehen …
MIMI immer verzweifelt, für sich.
Ach – mein Leben …
RUDOLF.
Der zarten Blume gleicht sie,
Die verkümmernd dahinsiecht.
Um sie am Leben zu halten,
Glaubst du, die Lieb‘ allein genügt?
MARCEL.
Freund – begleit‘ mich … schweige …
Hör, Rudolf, du weißt nicht …
MIMI.
Weh‘ mir – weh‘ mir! – Schon zu enden!
Ach, mein Leben, meine Jugend!
Weh‘ mir, schaudernd blicke ich ins Grab!

Mimi hustet hier heftig, so daß sie sich Rudolf verrät.

RUDOLF.
Wie? Mimi – du?

Schnell auf sie zueilend.

Hörtest du mich sprechen?
MARCEL.
Hat sie alles verstanden?
RUDOLF.
Ich bin wohl ängstlich sehr,
Das Kleinste macht mich beben.
Komm – drinnen ist es warm!

Will Mimi in die Schenke führen.

MIMI.
Nein – die Luft dort erstickt mich fast.

Rudolf umarmt Mimi zärtlich und schmeichelt ihr.

RUDOLF.
Süße Mimi!

Aus der Kneipe hört man ausgelassenes Lachen.

MARCEL.
Es ist Musettens Lachen!

Zum Fenster laufend, um hineinzusehen.

Doch mit wem? …
Sieh! die Kokette …
Dich will ich lehren!

Tritt heftig in die Schenke.

MIMI.
Leb wohl jetzt …

Sich von Rudolf losmachend.

RUDOLF.
Wie – gehst du?
MIMI.
Wo ich selig von Glück
Deinem Treuschwure lauschte,
Bleibst allein du zurück …
Mimi kehrt einsam wieder
Ins ärmliche Nest
Zu falschen Frühlingsblumen …
Leb wohl denn! Heg‘ kein Hassen!
Noch laß dich bitten: sammle die Dinge,
Die bei dir ich gelassen.
Im kleinen Kästchen, verschlossen,
Liegt der goldne Ring und mein Gebetbuch.
Tu‘ alles wohlverpackt ganz still in mein Brusttuch.

Ensemble.

Der Portier soll mir’s holen …
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eins noch! Unter dem Kissen
Findst du die Rosa-Haube …
Doch die, wenn du willst –
– Nur wenn du willst – behalt zum Gedächtnis
Meiner Lieb‘ ohn‘ Unterlaß!
Leb wohl! und ohne Haß …
RUDOLF.
Dies wär wirklich das Ende?
Du willst gehn? Willst deinen Freund verlassen?
Fahr wohl dann, mein Liebestraum!
MIMI.
Lebt wohl ihr süßen Stunden
Im Morgenschimmer …
RUDOLF.
Nun strahlet mir sel’ge Ruhe
Ins Leben dein Lächeln nimmer …
MIMI lächelnd.
Vorbei sind Eifersucht und Wüten,
Mißtrau’n und Schelten, gar schmerzliche Stunden!
RUDOLF.
Küsse! Die als Dichter ich reimte:
Süße Schäferstunden!
BEIDE.
Einsam im Winter! Das ist wie Todesqual;
Weit besser im Frühling; dann ist mit uns der Sonne Strahl!
MIMI.
Nicht einsam läßt uns der Mai!
RUDOLF.
Man spricht von Lilien und Rosen.
MIMI.
Aus allen Nestern singt’s von Liebeskosen …
BEIDE.
Frühlingsblüten spenden Wonne,
Leben weckt die Sonne …
Murmelnde Quellen gleiten,
Und laue Lüfte breiten
Kühlung den Herzen,
Die voll von Erdenschmerzen.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ob uns Lenzluft
Einmal noch auf Erden lacht?
MIMI.
Dein – fürs ganze Leben …

Zu Rudolf tretend.

RUDOLF.
Wir werden scheiden …
MIMI.
Wir werden scheiden in der Blumenzeit.
RUDOLF.
Ja, in der Blumenzeit!
MIMI.
Ach, möcht das Schauern

Zärtlich, todesahnend.

Des Winters ewig dauern …
BEIDE.
Wenn rings lacht der Mai,

Schon im Abgehen hinter der Szene.

Ist unser Glück vorbei.

Von der Schenke ertönt Lärm von zerbrochenen Gläsern und Tellern.

MARCEL ruft aus der Schenke aufgebracht.
Sag, was war das? Was denn tust du
Dort am Feuer mit dem Herren?
MUSETTE noch von innen.
Geht’s dich an? Sprich, was soll’s?

Kommt aus dem Wirtshaus gelaufen.

MARCEL auf der Schwelle der Schenke zu Musette.
Als ich gekommen, sah ich deutlich dich erröten.
MUSETTE herausfordernd.
Jener Herr hat nur gefragt mich:
»Lieben Sie den Tanz, mein Fräulein?«
Und errötend gab ich Antwort:
»Gerne würd‘ ich immer tanzen,
Tag und Nacht so gern«, gestand ich.
MARCEL.
Kokett’rie ist all dein Wesen.
Was du da erzählst,
Ist harmlos nicht gewesen.
MUSETTE.
Freiheit brauche ich zum Glück.
MARCEL.
Nimm dich in acht, das rat‘ ich dir!

Will sich auf Musette stürzen.

MUSETTE.
Nun, was weiter?
MARCEL.
Hab‘ ich erst dich falsch befunden …
MUSETTE.
Schrei nicht so! Was kannst du machen?
Wir sind ehlich nicht verbunden.
MARCEL.
Merk! Ich laß mich nicht betrügen,
Dazu bin ich nicht geschaffen.
MUSETTE.
Lächerlich macht der Galan sich,
Der des Gatten Wut maßt an sich!
MARCEL.
Mit der Fadheit deiner Laffen
Hab‘ ich füglich nichts zu schaffen.
MUSETTE.
Laß mich doch den Herrn gefallen,
Ist das alles?
Laß mich doch den Herrn gefallen!
MARCEL wütend.
Die Kokette schielt nach allen …
MUSETTE ironisch.
Musette wird nun gehn!
Empfiehlt sich schön.
Ganz ergeben!
Mein Herr, welch ein Trost:
Auf Nimmerwiedersehen!
MARCEL.
Gehn Sie endlich? Besten Dank Euch!

Höflich, bissig.

Ich ward reich und kann Euch missen.
Ganz ergeben! Auf Nimmerwiedersehn!
MUSETTE geht wütend ab, nach einigen Schritten plötzlich stehenbleibend) (schreiend.
Ihr Kneipenschildermaler!
MARCEL von der Mitte der Bühne rufend.
Schlange!
MUSETTE.
Kröte!

Schnell abgehend.

MARCEL ihr nachrufend.
Hexe!

Ab in die Schenke.

Der Vorhang fällt sehr langsam.

Ende des III. Bildes

Viertes Bild

»In Jener Zeit waren unsere Freunde, wie man sagen könnte, längst verwitwet.
Musette war eine fast berühmte Persönlichkeit geworden; seit drei oder vier Monaten hatte Marcel sie nicht wieder gesehen.
So auch Mimi; Rudolf hatte gar nichts mehr von ihr gehört, ausgenommen, wenn er, im Selbstgespräch, ihren Namen nannte.
An einem Tage, an welchem Marcel das ihm von Musette geschenkte Band still küßte, bemerkte er, daß Rudolf eine kleine Rosa-Haube versteckte, diejenige, die ihm Mimi gelassen.
‚Gut‘, murmelte Marcel, ‚er ist ebenso feige wie ich!‘
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein fröhliches und doch schreckliches Leben!«

In der Mansarde

Wie im ersten Bilde.

Marcel sitzt wieder vor seiner Staffelei und Rudolf vor seinem Schreibtisch. Sie wollen sich gegenseitig täuschen, als wenn sie unermüdlich arbeiteten, während sie nur träumen und schwatzen.

MARCEL ein Gespräch fortführend.
In einem Wagen?
RUDOLF.
Mit zwei Pferden und Livree …
Lächelnd sah ich sie grüßen …
»Nun Musette«, so frug ich,
»Was macht dein Herz?«
»Es schlägt nicht – oder ich hör’s nicht;
Des Samtes wegen, der hüllt es gut ein.«
MARCEL mit erzwungenem Lachen.
Wie sehr mich das freut,
Wenn sie sich zerstreut!
RUDOLF für sich, fängt wieder zu arbeiten an.
Das lügt er gut …
Er lacht und schnaubt Wut!
MARCEL für sich, sinnend.
Es schlägt nicht? Gut so!
Hör, wen ich sah!

Malt mit großen Pinselstrichen darauf los.

RUDOLF.
Musette?
MARCEL.
Nein, Mimi.
RUDOLF erregt, im Schreiben sich unterbrechend.
Du sahst sie? Ist’s möglich!
MARCEL die Arbeit ruhen lassend.
In ’ner Karosse fuhr sie;
Wie eine Königin gekleidet …
RUDOLF.
Ganz gut so! – Ich bin’s zufrieden.
MARCEL für sich.
Wie der Heuchler von Liebe leidet …
RUDOLF.
Nun zur Arbeit …
MARCEL.
Ja, zur Arbeit …

Sie nehmen ihre Arbeit wieder auf.

RUDOLF nach einer Pause.
Infame Feder …

Wirft die Feder weg.

MARCEL.
Welch scheußlicher Pinsel …

Wirft den Pinsel von sich. Beide Freunde sitzen trotzig beiseite, Rudolf brütet vor sich hin; Marcel starrt sein Bild an. Marcel, versteckt durch das Bild, zieht ein seidenes Band heimlich aus der Tasche und küßt es, ohne daß Rudolf davon etwas sehen kann.

RUDOLF.
Ach, Geliebte! Nie kehrst du mir wieder,
Reichst mir nicht die kleine Hand –
Schüttelst nicht die braunen Locken,
Lächelst nicht wie einst, da schwärmten
Wir im Jugendzauberland!
MARCEL.
Wüßt ich nur, ob ein Pinsel allein,
Ohne Zutun der menschlichen Hand,
Könnt‘ schaffen selbst ein Bild?
So oft ich Erd‘ und Himmel möchte malen,
Den Winter, oder Lenzeslust –
Malt dieser Pinsel zwei tiefschwarze Äuglein,
Frisch den Mund, schneeweiß die Brust,
Und ewig scheint’s Musettens Bild zu sein!

Rudolf nimmt aus der Kassette auf dem Tische die kleine Rosa-Capotte Mimis.

RUDOLF.
Komm, o zarte kleine Haube!
Dich wahrt‘ ich gut!
Du lagst auf dem Kissen,
Wo ihr Haupt geruht.
Komm, o teures Pfand,
Weck‘ die Erinn’rung,
Mach‘ mir das Herz, das schwer an Sehnsucht krankt,
Aufs neue wieder jung!
MARCEL.
Kommt das zarte Bild Musettens
Aus der Leinwand keck heraus
Voll Zärtlichkeit und Lügen, –
Dann schmerzt es mich, daß alles aus!
Mein ganzes Herz sehnt sich zurück;
Doch sie bleibt kalt,
Es lacht vergnügt ihr Blick!

Marcel ist in tiefes Träumen versunken, Rudolf will seine Rührung verbergen, legt die Capotte an sein Herz und dreht sich dann, sich ungezwungen stellend, zu Marcel um.

RUDOLF.
Weißt du, wie spät es ist?
MARCEL schreckt bei der Anrede aus dem Traume auf und antwortet ganz heiter.
Genau die Essenszeit von gestern …
RUDOLF.
Und Schaunard, wann kommt er!

Schaunard und Collin treten ein. Ersterer trägt vier Brote, letzterer eine Tüte.

SCHAUNARD.
Da sind wir!
RUDOLF.
Nun – und?
MARCEL.
»Nun, und?«

Schaunard legt die Brote auf den Tisch.

Verächtlich.

Nur Brot?
COLLIN legt, nachdem er die Tüte geöffnet, einen geräucherten Hering auf den Tisch.
Seht dies Gericht, wert des Demosthenes!
Ein Hering!
SCHAUNARD.
Und geräuchert! …

Sie setzen sich zu Tisch und fingieren ein lukullisches Mahl.

COLLIN feierlich.
Der erste Gang, ihr Herrn!

Er schiebt die Brote jedem hin.

MARCEL.
Gleicht dies nun nicht dem Lande der Schlaraffen?
SCHAUNARD setzt Collins Hut auf den Tisch und stellt wie in einem Eiskühler die Wasserflasche hinein.
Jetzt rasch in Eis kühlt den Champagner …
RUDOLF Marcel Brot anbietend.
Zieht Herr Baron vor Lachs oder Forellen?

Bedankt sich, nimmt an, wendet sich zu Schaunard und serviert diesem ein Stück Brot.

MARCEL.
Herzog! Nehmt doch hier Papageienzunge …
SCHAUNARD lehnt sehr förmlich ab, schenkt Wasser ein und reicht das Glas dann Marcel.
Danke! Zu viel schon! Ich hab‘ noch ’nen Ball vor!

Das einzige Glas geht von Hand zu Hand. Collin, der sein Brot sehr schnell verzehrt hat, steht zuerst auf.

RUDOLF zu Collin.
Schon fertig?
COLLIN wichtig, höchst ernsthaft.
Ich hab‘ Eile! Mein harrt der König …
MARCEL mit Eifer.
Gibt’s ein Geheimnis …
RUDOLF.
Wohl ein Komplott?
SCHAUNARD steht auf und tritt zu Collin mit drolliger Neugierde.
Was geht denn vor?
MARCEL.
Was ist gescheh’n?
COLLIN gespreizt und wichtig einherstolzierend.
Der König macht mich zum Minister …
SCHAUNARD, RUDOLF UND MARCEL während sie Collin umringen.
Sehr gut …
Prächtig …
Herrlich! …
COLLIN mit Protektionsmiene.
Vermutlich seh‘ ich dort Guizot …
SCHAUNARD zu Marcel.
Reich‘ den Pokal mir …
MARCEL reicht das einzige Glas.
Gut – trink du. Ich esse.
SCHAUNARD feierlich auf den Stuhl steigend, erhebt das Glas.
Es sei erlaubt mir in diesem edlen Kreise …
ALLE ihn schreiend unterbrechend.
Schweig doch …
Mach dich fort …
… Auf die Sohlen …
Welcher Mischmasch!
… Mir das Glas her …

Collin sucht Schaunard das Glas zu entreißen; dieser aber deutet den Freunden durch Gesten an, man solle ihn doch fortfahren lassen in seiner Rede.

SCHAUNARD begeistert.
Da fällt ein herrlich Lied mir ein …
Gleich soll es Euch gesungen sein …
MARCEL, COLLIN UND RUDOLF brüllend.
Nein!
SCHAUNARD nachgiebig.
Gestattet Ihr Choreographie denn?
ALLE.
Ja, ja!

Alle Beifall klatschend umringen Schaunard und zwingen ihn, vom Stuhl zu steigen.

SCHAUNARD.
Der Tanz und der Gesang beginne!
COLLIN.
Zuvor räumt aus die Säle!

Sie bringen Stühle und Tische auf die eine Seite der Bühne und stellen sich zum Tanz auf. Sie schlagen verschiedene Tänze vor.

ALLE durcheinander.
Gavotte …
…Menuett …
…Pfauentanz …
Fandango …
…Ich schlage vor Quadrille …
RUDOLF.
Führet die Damen …

Man arrangiert die Quadrille.

COLLIN.
Ich bin Ordner!

Alle willigen ein.

SCHAUNARD.
Lallera! Lallera etc.

Er schlägt mit komischer Wichtigkeit den Takt.

Collin tut, als ob er eine Quadrille anzuordnen hätte.

RUDOLF tritt zeremoniös mit einer großen Verbeugung zu Marcel, ihn galant um seine Hand bittend.
Wie reizend sind Sie, Fräulein!
MARCEL mit Frauenstimme, affektiert, bescheiden.
Ihr ehret und beschämet mich!

Mit Männerstimme.

Ich bitte!
COLLIN als Tanzordner.
»Balancez!«
SCHAUNARD streitend.
»Rund« geht vorher …
COLLIN.
Nein, Dummkopf.

Rudolf und Marcel tanzen in der Quadrille.

SCHAUNARD mit komischer Verzweiflung zu Collin.
Ihr tanzt ja wie Lakaien …
COLLIN.
Das ist »touche«, da ist kein Zweifel.
Zieht den Degen!

Schaunard nimmt die Ofenschaufel vom Kamin. Collin läuft und holt sich die Feuerzange. Sie stehen in Positur und fingieren das Duell.

SCHAUNARD.
Wehrt Euch! Alle Teufel!
Nur dein Blut
Stillt meine Wut.

Rudolf und Marcel hören zu tanzen auf und brechen in ein großes Gelächter aus.

COLLIN.
Einer von uns beiden sterbe …
SCHAUNARD.
Richtet immer eine Bahre …
COLLIN.
Und begrabt ihn recht und gut …
RUDOLF UND MARCEL heiter.
Während sie sich blutig streiten,
Wollen wir zum Ringtanz schreiten …

Sie tanzen um die Duellanten, die sich anstellen, als würden sie immer blutdürstiger. Mit den Füßen aufstampfend, signalisieren sie die Stöße: »da – nimm dies« – »das für dich« – »so stirb denn!« – Plötzlich wird die Tür geöffnet, und sehr aufgeregt tritt Musette herein.

MARCEL sie erblickend.
Musette!
MUSETTE hastig, mit atemloser Stimme.
… Mimi naht …
Mimi folgt augenblicklich mir auf dem Fuße,
Sie ist ganz krank, kann langsam nur steigen …
RUDOLF.
O Gott!

Er läuft Mimi entgegen, auch Marcel eilt mit; durch die offene hintere Türe sieht man Mimi entkräftet auf der letzten Treppenstufe sitzen.

SCHAUNARD zu Collin.
Hilf das kleine Bett mir tragen …

Sie tragen das Bett Mimi entgegen. Musette läuft mit einem Glas Wasser Mimi entgegen. Rudolf und Marcel geleiten die erschöpfte Kranke auf den Schlafdivan.

RUDOLF.
Hier – ein Schluck nur …
MIMI.
O Rudolf!
RUDOLF innig besorgt.
Still jetzt …
Du brauchst Ruhe …

Man legt Mimi bequem.

MIMI Rudolf umhalsend.
Ach mein Geliebter! Willst du bei dir mich dulden?
RUDOLF.
O Mimi ja – wär’s doch für ewig!
MUSETTE zieht die anderen beiseite und sagt mit gedämpfter Stimme.
Jüngst hört‘ ich sagen, daß Mimi
Ihren Grafen verlassen habe;
Sie sei krank zum Sterben …
Wo sie wohne, frug ich; nutzlos!
Da sah ich sie auf der Straße,
Wie sie mühsam sich schleppte,
Und sie sagte: »Weiter geht’s nicht.
Ich sterbe; ich fühl‘ es! Wär ich bei ihm,
Der mich vielleicht erwartet …«

Ohne es zu wollen, spricht Musette den Schlußsatz erregt laut. Unterdes hat Rudolf Mimi sanft überredet, sich zu legen; er deckt sie zu. Dann macht er mit großer Sorgfalt die Kissen ihr bequem und legt eines unter ihren Kopf. Marcel mahnt mit einem »bst!« Musetten, doch leise zu sprechen. Musette entfernt sich weiter von Mimi.

MUSETTE fortfahrend im Erzählen.
»Führ‘ zu ihm mich, Musette …«
MIMI schwach.
Ich fühle mich besser …
Laßt im Zimmer mich umherschau’n.

Mild lächelnd.

Ah – wie fühl‘ ich wohl mich hier …
Neu geboren! Neues Leben …
Neue Jugend kehrt zurück zu mir …
Nein, du darfst mich nicht verlassen.

Allmählich sich etwas aufrichtend, Rudolf umarmend.

RUDOLF.
Für jedes Wort, o, sei gesegnet.
Sprich weiter – sprich doch …
MUSETTE heimlich.
Was habt Ihr im Hause?
MARCEL.
Gar nichts! …
MUSETTE.
Nicht Kaffee? Nicht Wein?
MARCEL trostlos.
Nichts als die Armut!
SCHAUNARD zieht Collin beiseite, nachdem er Mimi scharf beobachtet hat, ganz leise.
Bald enden ihre Leiden …
MIMI.
Mich friert entsetzlich …
Hätt‘ ich einen Muff doch!
Ob meine eiseskalten Hände
Nimmermehr werden warm?

Hustet.

RUDOLF nimmt Mimis kalte Hände in die seinen, um sie zu erwärmen.
In meine Hand leg schweigend die deine.
Schone dich!
MIMI.
Hab‘ etwas Husten! Bin das gewöhnt schon.

Sie ruft die Freunde alle mit Namen.

Marcel! Guten Tag Euch!
Collin, Schaunard, ach, Ihr Guten!

Lächelnd.

Alle, die Ihr um mich, lächelt freundlich mir zu!
RUDOLF.
Nein, nicht sprechen. – O schweig …
MIMI.
Nur ganz leis! Seid nicht ängstlich …

Macht Marcel ein Zeichen, näher zu ihr zu treten.

Marcel – laßt mich Euch sagen:
Warhaft gut ist Musette!
MARCEL Musetten bewegt die Hand reichend.
Ich weiß – ich weiß!

Schaunard und Collin gehen traurig von der Kranken weg; ersterer setzt sich an den Tisch und stützt den Kopf in die Hände; Collin bleibt nachdenklich stehen.

MUSETTE nimmt Marcel und führt ihn weg von Mimi; sie macht ihre Ohrringe los und flüstert, ihm dieselben einhändigend.
Nimm hier, verkaufe das
Und bring dafür Medizin
Und einen Doktor …
RUDOLF zu Mimi.
Ruh‘ aus nun …
MIMI.
Aber du gehst nicht!
RUDOLF.
Nein, nein.

Mimi scheint allgemach einzuschlafen. Rudolf hat sich einen Stuhl an das Bett gerückt und setzt sich zur Kranken nieder. Marcel will eben gehen, da hält ihn Musette nochmals auf und führt ihn ganz beiseite.

MUSETTE.
Noch eins!
Wohl zum letzten Mal äußert‘
Die Ärmste einen Wunsch, er sei erfüllt ihr!
Ich kauf‘ ihr einen Muff.
Nimm mich mit dir!
MARCEL.
Wie gut du bist, Musette.

Beide gehen eilig ab.

COLLIN mit wachsender Rührung, zu seinem Mantel, ihn betrachtend.
Höre, du alter Mantel:
Bleib ich auf meiner ebnen Bahn,
Mußt zum Leihhaus du hinan.
Deinen Schutz laß mich dir danken.
Nie mocht’st du bücken
Vor Macht und Reichtum
Den verschlissenen Rücken!
Oft in deine mächt’gen Taschen
Flüchteten sich die Dichter
Und manch gelehrt‘ Gelichter
Nun die gute Zeit so weit entfloh’n,
Nehm ich Abschied von dir, mein braver Patron.
Freund – leb wohl, leb wohl!

Er macht aus dem Mantel ein Bündel, nimmt dasselbe unter den Arm und will eben gehen. Da fällt sein Blick auf Schaunard. Er tritt zu ihm und klopft ihm auf die Schulter. Schaunard wendet den Kopf.

Hör‘, Freund! Laß uns, wenn auch verschiedener Art,
’nem guten Werk aus Freundespflicht uns weih’n!

Auf den Mantel zeigend.

Ich hierdurch! Und du: – laß dieses Paar allein!
SCHAUNARD gerührt, steht auf.
Ein Philosoph, der Herz hat.

Sieht nach dem Bett.

’s ist wahr – ich geh!

Schaunard blickt sich um: sein Weggehen zu maskieren, nimmt er die leere Wasserflasche, geht mit Collin vorsichtig hinaus und schließt sehr leise die Tür.

Pause

Als alle weg sind, schlägt Mimi die Augen auf und streckt Rudolf die Hand entgegen, die er voll Zärtlichkeit küßt.

MIMI.
Sind wir allein?

Rudolf winkt bestätigend.

MIMI.
Ich stellte nur mich schlafend,
Weil mit dir ich gern allein wollt‘ bleiben.
Ich hab so viel dir, ach so viel zu sagen.
Zwar nur eins brauch‘ ich dir zu beschreiben:

Sich ein wenig aufrichtend, von Rudolf unterstützt.

Ein Gefühl wie das Meer, so unermeßlich
Ist meine Liebe zu dir. Sie füllt mein Leben.
Ich ward ich selbst erst, als ich dir
Mich ganz dahingegeben.

Legt den Arm um Rudolfs Hals.

RUDOLF.
O Geliebte! Schön wie der Morgen.
MIMI.
Bin schön ich noch, o sag?
RUDOLF.
Schön wie des Morgens Wonne.
MIMI.
Das ist falsch verglichen,
Weit richtiger wär:
Schön wie die sinkende Sonne!

Träumt von vergangener Zeit.

Man nennt mich jetzt nur Mimi!
Doch, warum? weiß ich nicht!
RUDOLF zärtlich ergriffen.
Nun kam die Schwalbe zum Neste zwitschernd wieder.

Er zieht die von Mimi zurückgelassene Haube unter der Weste hervor und bietet sie Mimi an.

MIMI.
Sieh da, mein Häubchen – Ah –
Ein Gruß aus bess’rer Zeit!

Biegt den Kopf vornüber zu Rudolf, daß er es ihr aufsetzen solle; nachdem er das getan, läßt sie Rudolf zu sich auf den Bettrand sitzen und lehnt den Kopf an seine Brust.

Denkst du des Tages,
Wo zum ersten Male
Ich schüchtern zu dir kam.
RUDOLF.
Ob ich dran denke!
MIMI.
In meiner Hand erlosch das Licht.
RUDOLF.
Angst sprach aus deinem Angesicht.
Dann: der Schlüssel kam abhanden!
MIMI.
Wir suchten tastend, was wir doch nie fanden.
RUDOLF.
Und zagten weidlich!
MIMI lächelnd.
Ja, mein schönes Herrchen!
Jetzt kennt den Grund man leidlich:

Mit Grazie.

den Schlüssel fanden Sie alsobald.
RUDOLF.
Ein wenig lenkt‘ ich wohl des Schicksals Gewalt.
MIMI.
Es war dunkel, und du sahst nicht mein Erröten.

Sie phantasiert von jener Nacht zu Weihnachten und wiederholt Rudolfs damalige Worte.

Wie kalt sind Ihre Händchen!
Gönnt mir, daß ich sie wärme.
Die Nacht allein war Zeuge,
Du nahmst sie in die deinen.

Sie hat einen heftigen Hustenanfall; sie sinkt zurück ins Kissen, ganz kraftlos.

RUDOLF rasch sie unterstützend, aufschreiend.
Hilf, Gott!

In diesem Moment kommt Schaunard zurück; auf den Schrei Rudolfs hin will er zu Mimi.

SCHAUNARD.
Was gibt’s?
MIMI beide anlächelnd.
Nichts, Freunde – recht wohl geht’s.
RUDOLF legt ihr die Kissen bequem.
Sprich nicht – beim ew’gen Gott.
MIMI.
Ah – verzeih mir, ich will brav sein!

Musette und Marcel treten vorsichtig herein; Musette bringt einen Muff, Marcel eine Medizinflasche.

MUSETTE sich Marcel nähernd.
Schläft sie?
RUDOLF.
Sie ruht jetzt.
MARCEL.
Ich sprach eben den Doktor.
Er kommt; ich macht’s ihm eilig: hier, die Medizin.

Marcel stellt eine Spirituslampe auf den Tisch und zündet sie an.

MIMI.
Wer sprach hier?
MUSETTE.
Ich, Musette.

Sie nähert sich ihr und reicht ihr den Muff; von Musetten unterstützt setzt sich Mimi im Bette aufrecht und hat eine kindliche Freude an dem Muff.

MIMI.
Ah – wie weich er ist und wundervoll.
Nun werd‘ ich – nie mehr – kalte Hände haben!
Und die Wärme – verfeinert sie.

Zu Rudolf.

Bist du’s, der mir ihn schenkte?
MUSETTE rasch.
Ja!
MIMI reicht Rudolf die Hand.
Seht den Verschwender! Danke!
Er kostet viel.
Tränen? – Mir ist wohler.

Rudolf weint.

Sag‘ mir, warum du weinst?

Mit verlöschender Stimme.

Geliebter – o bleib bei mir
Die Hände – erwärmen
Und – süß – schlafen –

Sie steckt die Hände in den Muff und legt anmutig den Kopf auf den geliebten Muff. Nach und nach schläft sie in dieser Stellung ein; Musette hat währenddes die Medizin auf dem Spirituskocher erwärmt und murmelt gleichsam unbewußt Gebete. Rudolf, als er sieht, daß Mimi eingeschlafen ist, schleicht sich von ihr fort, nähert sich den Freunden und macht ein flehendes Zeichen, alles Geräüsch zu vermeiden. Er tritt zu Marcel.

RUDOLF.
Was hat der Arzt gesagt?
MARCEL.
Daß er kommt.
MUSETTE.
Gebenedeite Jungfrau! Schenk deine Gnade
Dieser armen Kranken, daß sie nimmer uns sterbe!

Sich unterbrechend.

Vor die Lampe gehört ein Schirm,
Daß die Flamme sie nicht blende.

Marcel eilt auf Musettes Zeichen herzu, nimmt ein Buch und stellt es derart vor die Lampe, daß Mimi nicht mehr in die Flamme sehen kann, wenn sie wach würde.

So recht.

Weiterbetend.

Laß sie wieder genesen.
Sieh, Mutter Gottes:
Ich knie sündhaft hier im Staube,
Während Mimi ein Engel ist
An Herzensgüte!
RUDOLF zu Musetten, während Schaunard leise auf den Fußspitzen an das Bettende geht, um Mimi zu beobachten. Er macht eine schmerzliche Geste und tritt zu Marcel zurück.
Ich heg‘ noch Hoffnung!

Zu Musette.

Scheint Euch der Zustand trostlos?
MUSETTE zögernd.
Ich zweifle.
SCHAUNARD mit erstickter Stimme.
Marcel – sie ist tot!

Marcel tritt ans Blett, wirft auf Mimi einen Blick und prallt entsetzt zurück.

COLLIN tritt vorsichtig herein und legt dicht vor Musette Geld auf den Tisch.
Hier ist was, Musette!

Jetzt fällt ein Sonnenstrahl vom Fenster gerade auf Mimis Gesicht. Rudolf sieht es und sucht irgendein Mittel, um den grellen Schein von Mimi abzuwenden. Musette weist auf ihre Mantille, Rudolf steigt auf einen Stuhl und sucht die Mantille als Vorhang am Fenster zu befestigen. Collin eilt, ihm zu helfen.

COLLIN am Fenster zu Rudolf ganz leise.
Wie steht es?
RUDOLF auf Mimi zeigend.
Sieh nur – sie ist ganz ruhig!

Plötzlich bemerkt er das eigentümliche Betragen Marcels und Schaunards. Mit entsetzter Stimme, auffahrend, fast gesprochen und die Freunde einen nach dem anderen ratlos anblickend.

Was soll das? Was bedeutet Eu’r Flüstern?
Was seht Ihr mich so an?

In namenloser Angst blickt Rudolf starr um sich, auf die Freunde.

MARCEL kann sich nicht mehr halten, eilt zu Rudolf, umarmt ihn und spricht mit tiefer Rührung.
Armer Freund!
RUDOLF stürzt sich plötzlich auf das Bett Mimis, richtet die Geliebte auf und schreit in höchster Verzweiflung.
Mimi – Geliebte!

Wirft sich auf die Leiche und weint.

Musette, erschrocken, eilt nun auch an das Bett, stößt einen gellenden Schrei aus und sinkt vor Mimi in die Knie, an der entgegengesetzten Seite, wo Rudolf sich hingeworfen hat. Schaunard, tief erschüttert, läßt sich auf einen Stuhl nieder, links der Bühne, Collin tritt, durch die schnelle Katastrophe ergriffen, zum Fußende des Bettes; Marcel steht mit dem Rücken gegen die Zuschauer und schluchzt.

Der Vorhang sinkt langsam.

Ende der Oper