Umberto Giordano

Andrea Chénier

Musikalisches Drama mit geschichtlichem Hintergrunde in 4 Bildern

Personen

André Chénier
Charles GĂ©rard
GrÀfin von Coigny
Madeleine von Coigny
Bersi, die Mulattin
Roucher
Matthieu »Populus«, ein Sansculotte
Madelon
Ein Incroyable
Pierre Fléville, der Romancier, PensionÀr des Königs
Der Abate
Schmidt, Schließer von St. Lazare
Ein Haushofmeister
Dumas, PrÀsident des Wohlfahrtsausschusses
Fouquier Tinville, öffentlicher AnklÀger
Damen, Herren, AbbĂ©s, Lakaien, Stallknechte, SchlittenfĂŒhrer, Heiducken, Musiker, Diener, Pagen, SchĂ€ferinnen, Bettler. BĂŒrger, Sansculotten, Carmagnolen, Nationalgarden, Soldaten der Republik, Gendarmen, Marktweiber, FischhĂ€ndlerinnen, Strumpfwirkerinnen, Ausrufer, Kolporteure, Merveilleusen, Incroyables, Volksvertreter, Richter, Geschworene, Gefangene, Verurteilte, Gassenbuben. Ein Musikmeister, Albert Roger, Filandro Farinelli, Horatius Cocles, ein Kind, ein Schreiber, der alte GĂ©rard, Robespierre, Couthon, Barras, ein CasĂ©kellner usw. usw.

Zeit: WÀhrend der französischen Revolution.

Erstes Bild.

In der Provinz; im Schlosse der Gutsherrschaft, Grafen von Coigny. – Ein großes Glashaus; anspruchsvolle Nachahmung des Hauses OrlĂ©ans oder Kunsky. Das Glashaus bietet gegenwĂ€rtig, am Ende eines Wintertages des Jahres 1789, einen sonderbaren Anblick dar: mit seinen Statuen des Bacchus, der Flora usw. und mit seinem Altare der Minerva gleicht es einem Garten, ist jedoch ein Saal, in welchem allenthalben Möbel zerstreut sind darunter zwischen Vasen mit exotischen Pflanzen ein Silbermann-Klavier, stellt aber zugleich auch das Land vor. UngefĂ€hr auf der Ă€ußersten linken Seite öffnet sich zu FĂŒĂŸen eines sanft ansteigenden kleinen kĂŒnstlichen HĂŒgels der Blick auf eine Nymphengrotte. Von dort geht es zu einem BauernhĂ€uschen hinan mit Meierei und SchĂ€ferinnen, das an eine MiniaturmĂŒhle anstĂ¶ĂŸt.

Beim Aufgehen des Vorhanges laufen unter dem strengen Befehl eines arroganten, galonierten Haushofmeisters Lakaien, Diener und Kammerdiener herbei, mit MöbelstĂŒcken und Vasen beladen, um die AusschmĂŒckung des Glashauses zu vervollstĂ€ndigen. Charles GĂ©rard in Livree tritt ein, der mit anderen Bedienten ein schweres blaues Sofa trĂ€gt. An ihn hauptsĂ€chlich wendet sich der Haushofmeister mit hochmĂŒtiger Miene, indem er aufgeblasen und ironisch seine Anordnungen trifft. – Vom Tage an, da GĂ©rard bei der LektĂŒre J. J. Rousseaus und der EnzyklopĂ€disten ĂŒberrascht wurde, ist ihm kein Spott, kein demĂŒtigender niedriger Dienst erspart geblieben.

HAUSHOFMEISTER.
Das blaue Sofa stellt hierher!

GĂ©rard und die Lakaien tun es; dann deutet der Haushofmeister nach den inneren SĂ€len und tritt dort ein, gefolgt von allen Lakaien, mit Ausnahme GĂ©rards, der, vor dem blauen Sofa kniend, die verwickelten Fransen glĂ€ttet, die Polster schĂŒttelt und die blinden Stellen im Stoffe aufbĂŒrstet.

GÉRARD das Sofa apostrophierend.
GefÀlliger Kuppler,
Du hilfst so manchem Gecken und ModedÀmchen
Ans Ziel verkehrter WĂŒnsche!
Zum schwarzen Absatz hier seufzt sĂŒĂŸ der rote:
O Phillis oder Chloë!
Zwar nicht die JĂŒngste bist du mehr!
Du bist geschmĂŒckt, gepudert, duftest
Nach Bisam, doch gleichwohl,
Vielleicht auch grade deshalb lieb‘ ich dich!
Denn so will's der Geschmack der Zeit!

Vom Garten kommt ein alter GĂ€rtner, der sich mĂŒhsam unter der Last eines MöbelstĂŒckes fortschleppt. Es ist der Vater GĂ©rards. Dieser wirft den AbstĂ€uber hin, den er in der Hand hĂ€lt, und lĂ€uft dem Alten zu Hilfe, der sich dann zitternd durch die gewundenen GĂ€nge des Gartens entfernt.

Blickt tiefbewegt dem Vater nach.

Du, Alter, dienest von der Wiege bis zur Bahre!
Nun sechzig Jahre!
All deine KrÀfte, all dein Leben
Hast du den ÜbermĂŒtigen dahingegeben,
Und weiß sind deine Haare.
Was half dein Ringen, Streben?
Noch scheint zu klein das Opfer den BedrÀngern,
Sie wollen ĂŒbers Grab die Qual verlĂ€ngern,
Die vor dem Alter dich gebeugt,
Daß sie die Kinder strafen
Die du gezeugt 


Er schlÀgt in furchtbarem Grimm mit der flachen Hand gegen seine Brust und murmelt unter TrÀnen.

Ach, ein Geschlecht von Sklaven!

Er wischt sich unwillig das Gesicht ab und wendet sich gegen das Glashaus.

Ich verachte dich, goldenes Haus,
Du gleißendes Bild einer Welt des hohlen Scheines! 

Ihr seidnen Herrchen, zierlichen Koketten,
HĂŒpft nur behende!
Es geht zu Ende
Mit den Gavotten und Menuetten!
Wer es von euch verstĂŒnde,
Wie nah die Gefahr ihm droht!
Ich, Sohn des Sklaven, selbst ein Sklave
Und Richter in Livree verkĂŒnde:
Euch alle trifft der Tod!

Die GrĂ€fin, Madeleine und die Bersi, letztere in abenteuerlicher Kleidung, kommen miteinander vom Eingangstor ins Glashaus. – Die GrĂ€fin bleibt stehen, um dem wieder sichtbar werdenden Haushofmeister Weisungen zu geben. Madeleine schreitet mit der Bersi nĂ€her in den Vordergrund.

MADELEINE.
Der Tag entweicht, auf Erden
Will's Abend wieder werden,
Und durch der DĂ€mm'rung Zauberwalten
Wachsen die TrÀume zu phantastischen Gestalten.
Horch, wie der Sehnsucht ewiges Lied
Die stille Welt durchzieht!
GÉRARD fĂŒr sich, Madeleine bewundernd.
Welche Gewalten,
Göttliche Schönheit,
Kannst du entfalten!
Auch wenn die Form zerfĂ€llt, die Seel‘ entflieht,
Lebst weiter du im Lied!
GRÄFIN tritt in das Glashaus und mustert alles, was nach ihren Befehlen ausgefĂŒhrt worden ist, von oben herab durch die Lorgnette, dann zu GĂ©rard und den andern Lakaien gewendet.
Was fĂŒr Gesichter?
Anstatt zu gaffen, zĂŒndet an die Lichter!

Die Lakaien, und GĂ©rard mit ihnen, steigen auf Schemel, um die Armleuchter anzuzĂŒnden; nach und nach strahlt das ganze Glashaus im heitersten Lichte.

GRÄFIN leise zu GĂ©rard.
Wie steht es gegenwÀrtig?
GÉRARD.
's ist alles fertig.
GRÄFIN.
Die SĂ€nger?
GÉRARD.
Sind schon zum Feste da.
GRÄFIN.
Jedoch die Spieler?
GÉRARD.
Sie stimmen ihre Instrumente.
GRÄFIN ihm den RĂŒcken kehrend.
In dem Momente
Sind meine lieben GĂ€ste da.
MADELEINE.
Irr‘ ich nicht, Herr FlĂ©ville.
GRÄFIN mit Wichtigkeit.
Der Nestor unsrer Poesie!
MADELEINE.
Ein andrer noch?
GRÄFIN mit WĂŒrde.
Der kleine Abate.
MADELEINE.
Kommt einer aus Italien?
GRÄFIN nickt zustimmend.
Jawohl, Fléville; doch der Abate von Paris.

Dann, ĂŒberrascht, da sie bemerkt, daß die Komtesse noch im Hauskleide ist.

Im Negligé?

Madeleine winkt der Mutter zu, daß sie sich ankleiden gehen werde.

Pfui, Tochter! Nicht in Toilette!

Sie geht, nachdem sie Madeleine geliebkost hat, um in den oberen GemÀchern zum Rechten zu sehen.

BERSI lĂ€uft zu Madeleine hin und kauert sich mit ĂŒbertriebenen GebĂ€rden ihr zu FĂŒĂŸen.
Du seufzest?
MADELEINE.
Ja, ich denke, welche Marter
FĂŒr unsereine unerlĂ€ĂŸlich!
BERSI lebhaft mit dem Kopfe schĂŒttelnd.
Gereichst zur Zierde du dem Kleiderstaat,
Ich mach‘ ihn hĂ€ĂŸlich.

Sie besieht sich Àngstlich und zupft an den Falten ihres Kleides.

MADELEINE nÀhert sich ihr und sucht sie lÀchelnd zu beruhigen.
Wer diesen SchnĂŒrleib hat erfunden,
Soll in der Hölle gleiche Qual erdulden!
Hinein geklemmt so viele Stunden
In das verdammte Mieder!
BERSI unterbricht sie, die gezierten Gesten eines schmachtenden Seladon nachahmend.
O welche BĂŒste, welche Glieder!
MADELEINE.
Der fĂŒrchterliche Schlepprock,
»Jagdkleid à la Diana«,
Behindert mich und bringt mich außer Fassung;
Dazu kommt dann ein Hut
»À la eiserner Geldschrank!«
Wenn nicht Ȉ la Basilio« oder »Montgolfier  «
Ersticke oder platze!
Verzerrt wird die Natur zur tollsten Fratze.

Stimmengewirr in der Ferne meldet die Ankunft der Besucher an. Die GrÀfin tritt wieder ein.

MADELEINE ihr mutig die Stirn bietend.
FĂŒr diesmal nur entschuld'ge! Hörst du mich, Mutter?
GRÄFIN.
Mach‘ schnell, die GĂ€ste kommen schon.
MADELEINE.
Ich geh‘ im weißen Kleide,
Nur eine Rose zum Geschmeide!

Sie lÀuft fort, die Bersi hinter ihr drein.

Das ganze Schloß belebt sich. Diener lausen hin und her. Fackeln werden den ankommenden Schlitten entgegengetragen. Ein Schwall von LĂ€ufern strömt durch die EingangstĂŒr herein; sie tragen StĂ€be, die teils mit BĂ€ndern, teils mit Laternen geschmĂŒckt sind. Jedem Schlitten geht ein eleganter Herr zur Seite, der zuvorkommend beim Aussteigen hilft; es ist der dienstfertig abgesprungene Kavalier der ganz in Pelze eingehĂŒllten Dame, der er den Arm reicht. Herr und Dame passieren dann das Spalier der sich vor ihnen verbeugenden Schloßbewohner und nĂ€hern sich der GrĂ€fin, die ihnen lĂ€chelnd zum Willkommen entgegen geht. Bevor sie einander die Hand geben, verbeugen sich beide Damen dreimal, jedesmal mit doppeltem Knix, wie es die Etikette befiehlt; dann reicht die GrĂ€fin den Kavalieren die Hand zum Kusse und flĂŒstert ihnen graziös das Lob der Dame zu, welcher er dient. Der Kavalier kĂŒĂŸt der GrĂ€fin die Hand und begibt sich dann wieder zu seiner Dame. Sobald die Damen ihr Pelzwerk den Kammerjungfern ĂŒbergeben haben, erscheinen sie im höchsten Glanze ihrer ausgesucht prĂ€chtigen und kostbaren Toiletten. Auch die Herren erscheinen in dem ausgearteten KostĂŒm der Zeit. Der Haushofmeister meldet jedes Paar mit lauter Stimme an, also:

»Madame de Bissy und Chevalier de Villeneuve.«

GRÄFIN zum Chevalier.
Ah, das muß ich sagen,
Ihr wißt Euch fein zu tragen!
HAUSHOFMEISTER gesprochen, wie vorher.
»Marquise d'Entragues und Baron Berwick.«
GRÄFIN zu dem Baron.
Nein, wirklich ausgesucht galant!
HAUSHOFMEISTER wie vorher.
»Herzogin de Villemain und Marquis d'Harcout.«
GRÄFIN zum Marquis.
Wen die stolzesten Schönen
So sehr verwöhnen,
Der darf mit Liebe geizen!
HAUSHOFMEISTER wie oben.
»GrĂ€fin Etiolle d'Etoile und der hochwĂŒrdige Herr Freymond.«
GRÄFIN umarmt ohne Verbeugung eine alte Dame, die einen dicken Geistlichen zum Kavalier hat.
Doch stets geschmĂŒckt mit neuen Reizen!
Die Reiche,
Die Niemals-Gleiche!

Ein dumpfes SchellengelĂ€ut kĂŒndigt eine große altmodische Kutsche an. Derselben entsteigen: ein Ă€lterer Mann mit einem Riesenmuff, der Dichter FlĂ©ville, ein bartloser JĂŒngling, AndrĂ© ChĂ©nier, und ein Mann von unbestimmtem Alter, der Komponist Farinelli.

HAUSHOFMEISTER wie oben.
»Chevalier Antoine Pierre Fléville von der Akademie.«

Allgemeine Stille.

FLÉVILLE sehr verlegen.
Mit dankerfĂŒlltem Herzen 

Daß man mir so gehuldigt 

Gern hĂ€tt‘ ich mich entschuldigt 


Er sucht nach dem passenden Ausdruck.

Doch man beliebt zu scherzen 


Durch die allgemeine Stille verwirrt, kann er die Rede nicht vollenden und stellt die beiden mit ihm Gekommenen der Gesellschaft vor.

Wenn es erlaubt ist: Filandro Farinelli,
Italienischer Ritter und Komponist 

André Chénier 


Da er keinen Titel fĂŒr den Vorzustellenden findet, fĂŒgt er kleinlaut hinzu.

macht hĂŒbsche Verse
Und 
 einst ein Mann im Staate!

Madeleine tritt ein, sehr einfach in weißem Kleide, mit einer Rose im Haar.

Einige junge MĂ€dchen bieten Erfrischungen an.

HAUSHOFMEISTER wie oben.
»Der hochwĂŒrdige Herr Abate.«

Die Damen geraten bei dieser Anmeldung in Aufruhr, sie lösen die sorgfĂ€ltig beobachtete steife Ordnung des Zeremoniells auf und begrĂŒĂŸen den Ankömmling mit Zeichen der Freude.

GRÄFIN.
Der Abate! Kommt er endlich!
MADELEINE.
Der Abate!

Zu dem Abate.

Von Paris seid Ihr gekommen?
ABATE.
Ja.
GRÄFIN.
Habt Ihr Neues dort vernommen ?
MADELEINE.
Was denn?
GRÄFIN.
Sagt doch!
MADELEINE.
Was fĂŒr Sachen bringet Ihr?
Neues selbstverstÀndlich!

Von dieser Kundgebung sichtlich angenehm berĂŒhrt, kĂŒĂŸt der Abate viele HĂ€nde und macht BĂŒcklinge, die wie Kniebeugungen aussehen. Die GrĂ€fin wartet ihm unterdessen mit einer Marmelade persönlich auf.

ABATE.
Zu schwach ist der Regent.
FLÉVILLE.
Er hat bewilligt?
ABATE.
Ja, schlecht ward er beraten.
GRÄFIN.
Wohl Necker?
ABATE.
Er hat's gebilligt.

Er kostet die Marmelade und seufzt mit GebÀrden der tiefsten Niedergeschlagenheit.

MADELEINE, GRÄFIN UND CHOR.
Pfui Necker!
Ach, vor Neugier sterben wir
ABATE greift jetzt die Marmelade tapfer an und haut mit dem ganzen Löffel auf sie ein.
Wir haben den dritten Stand!
ALLE.
Ah!
ABATE.
Dann sah ich auch beschimpfen 

ALLE unterbrechend.
Wen?
ABATE.
Das Denkmal Heinrich des Vierten!
CHOR.
Entsetzlich!
GRÄFIN.
Wohin soll das noch fĂŒhren?
ABATE.
Ja, ja, so frag‘ ich auch.
GRÄFIN.
Gefahr lÀuft die Moral!
ABATE einem Pagen die leere Tasse reichend.
Sehr traurig, meine Schönen, sind
Die Neuigkeiten, die ich bringe 

FLÉVILLE mit erkĂŒnstelter Eingebung.
Ja, treiben wir lieber andere Dinge!
Vor dem holden Lenz und seinen lauen Winden
Muß dieses Schneegewölk entschwinden!
Wir wollen im GrĂŒnen kosen
Mit Veilchen und Rosen,
Und wonniger wieder,
AngefĂŒllt mit Duft,
Halle die Luft
Unsere SchÀferlieder!

Aus der kleinen BauernhĂŒtte kommen mehrere SchĂ€ferinnen hervor; sie gruppieren sich in schwĂ€rmerischen Stellungen um FlĂ©ville, der sie mit Bewunderung betrachtet. Gleichzeitig erklingt vom Chor ein den Wind nachahmendes GesĂ€usel der Violinen. Die SchĂ€ferinnen bilden wĂ€hrend des kleinen Vorspieles anmutige Gruppen mit gezierten GebĂ€rden und Bewegungen. Die Damen schauen sitzend zu; hinter jeder Dame steht deren Kavalier. Die EhemĂ€nner spielen im Hintergrunde. FlĂ©ville allein bleibt unter den SchĂ€fern seiner Dichtung stehen. ChĂ©nier beobachtet von der Seite und zeigt sich sehr gelangweilt. Madeleine, die sich von ihm angezogen fĂŒhlt, schenkt ihm ihre Aufmerksamkeit. Im Hintergrunde erscheint manchmal wie eine Drohung das bleiche Gesicht GĂ©rards. Musik und Schauspiel entzĂŒcken die Herren und versenken die Damen in Ermattung. – Abgebrochene, lebhafte Ausrufe wechseln mit leisem Ächzen ab.

CHOR gleichsam gesummt.
Das sanfte GesÀusel!
EINIGE.
Der Zephyr!
ABATE.
Der Seufzerwind!
ANDERE.
Seht Ihr das WellengekrÀusel?
EINIGE.
Ein Hauch nur das Ganze!
ANDERE.
O wie bewegt es mich sanft und gelind!
FLÉVILLE vor geschmeicheltem SelbstgefĂŒhl beinahe in TrĂ€nen ausbrechend.
Von mir ist die Romanze!
FRAUENCHOR der SchÀfer und die SchÀferinnen, das Seufzen der Verliebten nachahmend.
Ade mĂŒssen wir Euch sagen
Mit Klagen!
Wir treiben auf fremder Heide
Zur Weide!
Ach!
Morgen schon sind wir weit.
Was wir tief im Herzen tragen,
Ist Jammer, ist Leid!
Ach!

Lebhafter Applaus der Zuhörer.

Inzwischen dringen einige Damen lebhaft in den Abate; dieser wehrt sich geziert, aber jene lassen nicht nach und ziehen ihn mit Gewalt in die Mitte des Saales, damit er etwas von seinen Dichtungen deklamiere. Der Abate steht stumm, die Augen gegen den Himmel gewandt, als wolle er Begeisterung herabflehen.

ABATE ĂŒber einen augenblicklichen Einfall lĂ€chelnd, kĂŒndigt mit Bosheit an.
»Das FĂŒchslein und die Trauben«, eine Fabel.

Tiefe Stille.

»Ein Fuchs ging einst spazieren und spĂŒrte großen Hunger; er blieb vor einem Weinstock stehen, der voll von reifen Trauben war; das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Doch weh! Leider, leider hing das leckre Mahl viel zu hoch. Da rief das FĂŒchslein: Pah, diese Trauben sind mir zu sauer! – und tiefaufseufzend lief er weiter.«

Der Abate lacht, und die Damen lachen mit; dann aber wendet er sich mit einem bedeutungsvollen Blick an seine Zuhörer und fragt:

Wer nennt den Fuchs beim Namen?

Noch tiefere erwartungsvolle Stille; darauf schließt der Abate in der Art eines großen gewandten Schauspielers, indem er die HĂ€nde an den Mund legt und flĂŒstert:

Der dritte Stand!

Donnernder Beifall und lautes GelÀchter.

GRÄFIN geht auf ChĂ©nier zu.
Und Ihr, mein Herr?
CHÉNIER.
Frau GrÀfin, Sie befehlen?
GRÄFIN.
Wollt Ihr uns nichts erzÀhlen?
CHÉNIER.
Ich möchte wohl, doch meine Muse schweigt.
GRÄFIN mit Ironie.
Wie schade, daß sie uns Eueren Geist nicht zeigt.

Sie verlĂ€ĂŸt ihn, indem sie heftig mit dem FĂ€cher wedelt, und wendet sich an FlĂ©ville.

Er scheint schwer von Begriffen.
FLÉVILLE.
Noch ungeschliffen!
ABATE laut.
Auch machen manchmal Musen verlegene Gesichter!
GRÄFIN zum Abate.
Sehr wahr, mein lieber Dichter!

Sie nimmt seinen Arm und geht zu Farinelli, um diesen liebenswĂŒrdig ans Klavier zu ziehn.

MADELEINE welche die von Chénier ihrer Mutter gegebene Antwort gehört hat, sagt zu ihren die Köpfe zusammensteckenden Freundinnen.
Ich bring‘ ihn an die Kette!
Gilt die Wette?

Farinelli setzt sich ans Klavier und spielt; nach dem PrÀludium hÀlt er inne, blickt schmachtend mit einem Seufzer auf sein Publikum, spreizt die Finger und beginnt dann von neuem.

MADELEINE nÀhert sich, von ihren Freundinnen gefolgt, Chénier, wÀhrend Farinelli weiter spielt.
Meine KĂŒhnheit verzeihet!
Gehör mir leihet!
Mich treibt nur des Weibes Neubegier.

Sie sucht nach einer Beleidigung, die Chénier treffen könnte, und sagt mit einem raschen Blick auf ihre Freundinnen.

Singt doch, ich bitt‘ Euch,
Ein artig Liedchen mir 

Auf eine Verlobte oder eine Nonne!
EINIGE mit Hohn.
Ein Lied auf eine Nonne!
CHÉNIER.
Wohl ist mir jeder zarte Wunsch Befehl,
Doch kann man nicht der Phantasie befehlen,
Sie nicht erflehen,
Drum laßt mich gehen!
Wie Liebe launisch ist die Poesie,
Die beiden zwingt man nie!

Madeleine und ihre Freundinnen brechen in ein schallendes GelÀchter aus. Farinelli hört gekrÀnkt zu spielen auf. Alle gehen zu Madeleine und Chénier hin.

GRÄFIN.
WorĂŒber wird gelacht?
CHOR.
Was ist?
DIE FREUNDINNEN.
O hört doch, wie sie schlau es angefangen!
In die Falle ist der Dichter ihr gegangen.
MADELEINE noch immer lachend, wÀhrend Chénier betroffen dasteht.
Weil du von ihm, o Mutter, konntest nichts erlangen,
Wollt‘ ich versuchen, ob mir's nicht gelingt 

DIE FREUNDINNEN.
Um Euch zu rÀchen!
MADELEINE.
Wir machten eine Wette.
GRÄFIN UND CHOR.
WorĂŒber?
MADELEINE.
Daß er von Liebe zu mir singt.
GRÄFIN UND CHOR.
Nun, und?
MADELEINE Chénier karikierend.
Es rief die Muse!
Zwar ließ sie sich entschuldigen,
Doch sprach sie dann mit feiner Kunst
Zu mir dasselbe Wort, das Ihr

Sie wendet sich an einen lÀcherlichen Alten.

Und Ihr

Zu einem Abbé

Und Ihr natĂŒrlich,

Zu einem feisten Marquis.

Auch Ihr

Zu einem durch HĂ€ĂŸlichkeit auffallenden jungen Manne.

mir jeden Abend flötet 
 ohne Musengunst.

Alle lachen.

CHÉNIER sehr bleich geworden, sieht Madeleine an und streckt die HĂ€nde gegen sie aus.
Verwundet habt Ihr mich in meinem tiefsten Innern,
Wo sich die scheue Seele vor der Welt verschließt 


Er deutet auf sein Herz.

Jetzt aber muß ich sagen, welcher Zauber
In der verspotteten »Liebe« fĂŒr mich verborgen!

Alle sind von dem sanften Ton seiner Stimme ĂŒberrascht; die Kavaliere, Damen, AbbĂ©s usw., halten neugierig an um zu hören.

Die Blicke hatt‘ ich einst erhoben
Zum Sonnenhimmel,
Ein goldner Regen fiel von droben
Hernieder auf die Fluren
Über der MaienblĂŒten seliges Gewimmel;
Die Erde schien ein Schatzgewölbe mir,
Azuren
Schwebte der Äther als Kuppel ĂŒber ihr.
Und von den Feldern umzog ein Wehen,
Ein leises Atmen Stirne mir und Wangen.
Wie KĂŒsse;
Da jauchzt‘ ich auf, von Wonne ĂŒbermannt:
O laß dich liebend umfangen,
Wir werden uns verstehen,
Mein Vaterland!
Nun trat ich hin zu Gottes Altar,
Mich unter die Beter zu mischen 

Der Priester hÀuft in Heiligen-Nischen
Vor toten Bildern gierig tote Kostbarkeiten 

Und Bettler sah ich umsonst von ihm erflehen eine Spende 

Voll war sein Mund, doch blieben leer die HĂ€nde.

Der Abate und mit ihm die andern AbbĂ©s erheben sich entrĂŒstet.

In HĂŒtten wollt‘ ich Frieden suchen 

Da hört‘ ich ĂŒberall Gott und die Welt verfluchen.
Ein jeder Bissen wird besteuert,
Des Armen Brot verteuert,
Das Korn verfault im Speicher,
Den SchlĂŒssel hat ein Reicher!

Alle fuchteln, rot vor Zorn, mit den HÀnden umher und bedrohen Chénier; nur Gérard gibt vom Hintergrunde her seine Zustimmung zu erkennen.

Und was sagt denn der Adel,
Der allein bevorzugt, dazu?

Mit einem schnellen Blicke durchfliegt er die Gesellschaft, die jetzt teils so tut, als höre sie ihn nicht, teils ihm ihre Verachtung zu erkennen gibt, und spricht dann ausschließlich zu Madeleine weiter.

In Euren Augen glaubt‘ ich Mitleid zu lesen,
Ich empfand ihre stille Gewalt,
Ihr schient ein höheres Wesen,
Ein Engelsbild in Menschengestalt 

Ja, diese Sterne konnten nicht betrĂŒgen!
Ach, straft mich Euer Mund nicht LĂŒgen?
Ward ich nicht abermals betrogen von den Sternen?

Er unterbricht sich und sagt zu Madeleine, indem er sie voll anblickt, mit der Ă€ußersten Sanftmut.

Doch sag‘ ich Euch, o Schöne:
VerschmÀht nicht, von des Dichters Wort zu lernen!
O höret mich! Nur wer die Liebe nicht kennt,
Der lacht der göttlichen Gabe,
Denn ihre Glut
Ist allerköstlichste Habe,
Höchstes Gut!

Großer Tumult. FlĂ©ville entschuldigt sich bei der GrĂ€fin. – Der Abate ist hochrot vor Zorn und kehrt sich mit den GebĂ€rden eines Rasenden gegen ChĂ©nier. – Die jungen Kavaliere suchen ihn durch unverschĂ€mtes Benehmen herauszufordern. – Madeleine aber tritt entschlossen dazwischen, gebietet mit eindringlicher GebĂ€rde Stillschweigen und tritt bewegt zu ChĂ©nier hin.

MADELEINE.
Verzeihet mir!

ChĂ©nier entfernt sich erschĂŒttert und verschwindet.

GRÄFIN sucht Madeleine bei den GĂ€sten zu entschuldigen.
Der Jugend SchwÀrmerei!
Sie reizt zum Spotte!
Mit was fĂŒr Grillen schöne Seelen
Sich quÀlen!

Eine Gavotte wird oben auf dem Chor intoniert.

Ei hört! Begonnen hat schon die Gavotte! Die Herren wollen ihre Damen wÀhlen!

WÀhrend die Diener wieder ihre PlÀtze einnehmen, die Damen mit den Kavalieren zum Tanz antreten, dringt weit aus der Ferne verworren undeutlicher Gesang, der immer nÀher kommt.

CHOR hinter der BĂŒhne.
Weit besser sterben
Als hungernd verderben
In Not!
Ach, liebe Leute,
KĂ€me doch heute
Der Tod!
Gott befehlen
Wir unsere Seelen,
Mögen die Raben
Unsere Leiber begraben!

GĂ©rard erscheint an der Spitze einer abgezehrten, traurigen Menge.

GÉRARD die Anmeldungen des Haushofmeisters travestierend.
Seine Herrlichkeit, das Elend!
CHOR die HĂ€nde erhebend und flĂŒsternd.
Menschen, erbarmt euch der hungernden Schar!
GRÄFIN blaß vor Wut.
Wem ist das beigefallen?
GÉRARD.
Mir, GĂ©rard!
GRÄFIN zu den Bedienten.
Fort mit dem Bettelpack!

Zu GĂ©rard.

Mit dir vor Allen!

Der alte GĂ€rtner, GĂ©rards Vater, lĂ€uft herbei und wirft sich der GrĂ€fin zu FĂŒĂŸen; GĂ©rard reißt ihn in die Höhe und wendet sich stolz an die GrĂ€fin.

GÉRARD.
Gern will ich gehn, Frau GrÀfin!
Diese Livree beschwert mich,
Und es erscheint mir als GlĂŒck,
Mein Brot nicht ferner hier zu essen!
Des Elends Stimme rief mich lĂ€ngst zu ihm zurĂŒck.
Komm, Vater, mit mir fort,
Wie willst du bleiben da, wo ungehört
Verhallt ein flehend Wort?

Er reißt sich die Livree vom Leibe.

Herunter mit dir und komm mir nie mehr nah!

Haushofmeister, die Diener. Lakaien und Stallknechte drĂ€ngen die Menge zurĂŒck. Die GrĂ€fin lĂ€ĂŸt sich, vor Ärger keuchend, auf das Sofa fallen, wĂ€hrend das Volk sich entfernt. – GĂ©rard und sein Vater ziehen mit ihm fort.

GRÄFIN.
GĂ©rard! 
 Das kommt vom BĂŒcherlesen her!
Verwöhnt hab‘ ich die Leute,
Nun tu‘ ich keinem Gutes mehr 

Mich vor dem Pöbel bringt er in Verlegenheit.
Und weiß, daß ich mir machen ließ ein eigenes Almosenkleid!

Sie fÀllt auf dem blauen Sofa in Ohnmacht. Allgemeiner Wirrwarr. Die einen springen ihr mit belebenden Essenzen bei, die andern wollen ihr das Mieder lösen; das bringt sie wieder zur Besinnung.

GRÄFIN zum Haushofmeister, der zurĂŒckkehrt.
Sind sie gegangen?
HAUSHOFMEISTER.
Ja.
GRÄFIN zu den GĂ€sten.
Vergebung! Die Gavotte
Noch einmal angefangen!
Zur Freude sind wir da!

Zweites Bild.

Die BĂŒhne rechts: vorn ein Altar, Marat geweiht, seine BĂŒste tragend, vor welcher verwelkte Blumengirlanden, BĂ€nder und eine erloschene Lampe aufgehĂ€ngt sind. Der steinerne Untersatz, das Postament und die Stufen sind hie und da mit Plakaten beklebt. Auf dem einen steht: Einheit und Unteilbarkeit der Republik! auf einem andern: Freiheit, Gleichheit, BrĂŒderlichkeit! auf einem dritten: Also oder der Tod! Andere sind nur papierne Votivtafeln und begnĂŒgen sich mit einem: Ehre sei Marat! auch eine Theateranzeige ist dabei, in welcher ruhmredig angekĂŒndigt wird: Großes lyrisch-pantomimisches Hierodrama von X. Y. Z. – Links: im Vordergrunde die Terrasse der Feuillants und das CaffĂ© Hottot; Tische und StĂŒhle draußen im Freien zwischen BĂ€umen und großen Blumenvasen. Im Hintergrunde: der »Ex-Cours-la-Reine«, der schrĂ€g die BĂŒhne durchkreuzt, sie nach rechts erweiternd, nach links einschrĂ€nkend, von der Seite begrenzt, die parallel mit ihm lĂ€uft: Brustwehr, Platanen, Laternen. Am Ausgang in schrĂ€ger Richtung die BrĂŒcke Peronnet, die ĂŒber die Seine zum Palaste der FĂŒnfhundert fĂŒhrt.

Es ist ein Juninachmittag des Jahres 1794.

Die BĂŒhne ist sehr belebt. Auf der Terrasse des Kaffeehauses ist ein nicht aufdringlich gehaltenes Zusammenströmen der GĂ€ste. Unter ihnen tut sich die Mulattin Bersi hervor durch ihren bizarren Kopfputz, der grell von ihrer olivenfarbenen Haut absticht, und durch die extravagante Art sich zu kleiden, welche das elegante DĂ€mchen von frĂŒher in eine Merveilleuse verwandelt hat, ein der Wollust dienstbares Geschöpf, das im Verein mit dem Incroyable der Schreckensherrschaft ein Schnippchen schlĂ€gt, indem er seine Üppigkeit und sein frohes GelĂ€chter herausfordernd zum besten gibt. Hier zeigt sich ein solcher Incroyable in seiner aufschneiderischen betĂ€ubenden Herrlichkeit, im Rock mit den breiten AufschlĂ€gen und den schwarzen Kragen; er trĂ€gt die blonde PerĂŒcke, den kurzen Konstitutionsrock, das Kinn in der ungeheuren Krawatte vergraben. Mit den GebĂ€rden eines Spiones verfolgt er alles, was die Bersi tut und treibt. Neben dem Altar stehen der Sansculotte Matthien, genannt Populus, und die Carmagnolenjacke Horatius Cocles; der letztere hat seinen Namen von einer schwarzen Binde, die unter der phrygischen MĂŒtze sein linkes Auge verdeckt.

André Chénier sitzt ganz allein abseits an einem Tische.

MATTHIEU POPULUS zeigt dem Horatius Cocles die BĂŒste Marats, die er vom Altar herabgenommen hat, um sie mit seinem Taschentuche vom Staube zu reinigen.
Beim blauen Teufel! Sehr bedenklich ist verstaubt
Des Marat hochverehrtes Haupt.

Vom Pont Peronnet her und aus den MĂŒndungen des Coursla-Reine stĂŒrzen sich, aus vollem Halse schreiend und die neuen Zeitungen mit den HĂ€nden in der Luft schwenkend, die JournalverkĂ€ufer durch die GĂ€rten der Tuilerien, kleine Strolche mit der phrygischen MĂŒtze.

MATTHIEU kauft ein Blatt und macht es sich mit seinem unzertrennlichen Horatius Cocles auf dem Rasen unterhalb des Marat-Altares bequem, um zu lesen.
Angeschmiert! Schon sieben Wochen alt
Ist dieses Blatt!
BERSI zu dem Incroyable, von dem sie sich beobachtet sieht, ihn fixierend.
Ist's wahr, daß Robespierre Spione hat?
INCROYABLE ihr ins Gesicht mit dreistrer Miene.
Du willst wohl sagen, BĂŒrgerin,
»WÀchter des öffentlichen Geistes« sind angestellt?
BERSI.
Wie's dir gefÀllt.
INCROYABLE.
Ich weiß es nicht, kann es nicht wissen 


Seine Augen unablÀssig in die der Merveilleuse bohrend.

Doch dein Gewissen?
BERSI beunruhigt; da sie aber die Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet sieht, schnell gefaßt.
Gottlob, ist rein!
Und könnt‘ es anders sein?
Bin ich nicht ganz wie du
Der Revolution beglaubigt Kind,
Und ihrem Schoß entsprossen?
Freiheit ist mein Panier!
Leben und lieben,
Ausleeren ganz den Taumelkelch
Der Freude will ich hier,
Das Leben ist wie bald verflossen!
Hier HochgenĂŒsse sonder Zahl,
Und dort des Todes Qual!
Bei WĂŒrfeln und Karten hier
Der Spieler Rundgesang,
Und dort KanonengebrĂŒll,
Der Trommeln scharfer Klang!
Hier Wein und Liebe,
Dort Blut und wilde Triebe;
Hier laute Prasser,
Dort

Auf den Palast der FĂŒnfhundert zeigend.

stille Hasser!
Hier lĂ€ĂŸt die Merveilleuse sich's
Beim Glase Champagner behagen,

Sie ergreift ein Glas, mit Champagner gefĂŒllt, und weist auf den Cours-la-Reine hin, von welchem her der »kleine Korb« gefahren kommt, der Karren, mit Verurteilten beladen, die zur Guillotine gebracht werden.

Dort tanzt das Trödelweib mit der Lumpensammlerin
Um Samsons allerliebsten Wagen!

Sie leert lachend das Glas und lÀuft dem Wagen nach, der schnell den Hintergrund passiert. Geschrei der Menge, die dem Wagen folgt.

INCROYABLE hinter der Bersi herschauend, die sich entfernt, fĂŒr sich.
Nicht ging ich irre! Sie verkehrt
Mit jener reizenden Blondine! Ja,
Die Spur hab ich gefunden.

Er zieht ein kleines Notizbuch aus der Tasche und schreibt schnell etwas hinein.

Die BĂŒrgerin Bersi macht sich verdĂ€chtig
Des Eigennutzes, der Bestechung;
Denn mit Chénier tauscht oft sie Blicke.
Wohl zu merken!
André Chénier ist schon seit Stunden
In offenkundiger Erregung 

Wohl zu merken!

Er entfernt sich nach dem Hintergrunde zu.

Roucher kommt vom Cours-la-Reine her.

CHÉNIER sieht ihn.
Roucher!
ROUCHER voll Freude.
Chénier! Bist endlich du gefunden!
Die Rettung halt‘ ich hier in HĂ€nden!

Er zeigt ihm ein Blatt.

CHÉNIER.
Den Paß zur Reise?
ROUCHER.
Von allen Seiten droht dir hier Gefahr!
Erhalte uns dein teures Leben, flieh!
CHÉNIER.
Soll meinen Namen ich verleugnen, fliehn?
ROUCHER.
O tu's, Chénier!
CHÉNIER.
Nein, nein! 
 Glaubst du ein Schicksal?
Ich glaub‘ es. Glaub‘ an MĂ€chte, geheimnisvoll,
Welche zum Guten oder Bösen
Des Menschen Schritte leiten durch all die
Verschlungnen Wege rÀtselhaften Daseins;
An MĂ€chte, die unwidersprechlich sagen:
Du wirst ein Dichter! Du nimm einen SĂ€bel,
Du sollst Soldat sein! Also heißt mich
Mein Schicksal hier zu bleiben!

Entschlossen.

Wenn, was ich wĂŒnsche, sich bestĂ€tigt, bleib‘ ich.
ROUCHER.
Doch wenn es fehlschlÀgt?
CHÉNIER ihm die Hand hinstreckend.
Reis‘ ich ab sogleich.

Mit großer Zartheit.

Wit weichem HĂ€ndchen winkt ein Schicksal mir,
Das Liebe gibt 

Noch hab‘ ich nie geliebt;
Doch sah ich oft auf stillen Wegen
Mir hold entgegen
Die Heißersehnte schweben,
Die vom Geschick erwĂ€hlt, fĂŒr mich zu leben;
So hehr in himmlischem Glanze,
So schöngegliedert wie eine Stanze,
Kam sie daher, des Dichters Ideal!
Ja, auch die Stimme meiner Schönen
Hört‘ ich manchmal ertönen,
Viel sĂŒĂŸe Himmelslaute,
Denen ich gern vertraute:
Glaub‘ an dein GlĂŒck, ChĂ©nier,
Dir lacht der Liebe Strahl!

Er faßt Roucher unter den Arm und zieht ihn vom CafĂ© Hottot fort, indem er vertraulich ihm erzĂ€hlt.

Von fremder Seite gehn mir öfters Briefe zu,
Wo scherzhaft bald, bald ernsthaft man mich tadelt,
Mir guten Rat auch gibt. Nur eine Dame kann
So reizend schreiben.
Aus allen ihren Worten sprechen Herz und Geist.
Umsonst verfolgt‘ ich ihre Spuren 

ROUCHER.
Und bis wann?
CHÉNIER zeigt einen Brief vor.
Bis heut! Nun aber 

ROUCHER liest.
Kommen will sie?
CHÉNIER mit einem Ausruf des EntzĂŒckens.
Ja,
Ich soll sie sehn!
ROUCHER immer die Augen auf den Brief gerichtet.
Und das Geheimnis
Wird endlich sich entschleiern 
 Laß doch sehn.

Er nimmt den Brief, prĂŒft ihn nĂ€her und lĂ€chelt ironisch, wie er die Unterschrift »Hoffnung« erblickt.

Die Schrift ist richtig eine Frauenhand.
Feines Papier auch.

Beriecht den Brief.

Pfui, wie riecht das!
Ich kenne das ParfĂŒm.

Er gibt den Brief zurĂŒck.

Dies zarte Briefchen,
Welches nach Rosenöl, ganz à la Mode duftet,
ChĂ©nier, du kannst drauf schwören, denn ich wittr‘ es,
Kam dir aus einem Hause, das der Liebe
Geweiht ist. ChĂ©nier, laß dich doch belehren:
Dein vielgerĂŒhmtes Schicksal schenkte dir
Das Herz 'ner Merveilleuse! 

Nimm deinen Paß und reise 
 sei
Nicht abgeschmackt!
CHÉNIER.
Ich glaub‘ es nicht.
ROUCHER.
Das ganze Weibermeer der Stadt Paris,
In bunten Wogen fließt es hier vorĂŒber;
Ich kenne jede Welle! Gib nur acht,
Dein fremdes schönes RÀtsel will ich bald
Dir zeigen.
CHÉNIER betroffen.
Eine Merveilleuse wÀre
Mein sĂŒĂŸ Geheimnis nun, die Göttin
Der stillen TrĂ€ume?! 
 Ach, das heißt
Die Gottheit lÀstern! 
 Holde TrÀume,
Lebt wohl!

Er zerreißt den Brief.

ROUCHER.
Von gestern eine Jungfrau, Tagesschönheit,
TrÀgt deiner Gottheit Bildnis das Fichu
Der tollen Schwestern! Herrlich anzuschauen,
GeschwÀrzt die Brauen!
CHÉNIER.
Nun her mit deinem Passe!
ROUCHER ihm den Paß gebend.
Das laß ich mir gefallen!

Inzwischen drĂ€ngt sich bei der BrĂŒcke Peronnet eine große Menge Volkes zusammen, in der Erwartung, die ReprĂ€sentanten der FĂŒnfhundert herauskommen zu sehen. Allerlei verlaufenes und merkwĂŒrdiges Gesindel. Der ganze Schwarm, der die öffentliche Meinung macht, ist da, um sein Idol zu begrĂŒĂŸen, den »Kompaß des Patriotismus«: Maximilian Robespierre. Das sind die Vertreter der Nation! Die Begeisterung der Menge ist zum grĂ¶ĂŸten Teile von gleichgĂŒltigen Menschen geheuchelt; sie wissen recht gut, daß sie das nicht bekommen, was das Vorrecht der Könige Jahrhunderte hindurch war, und was nun ein einzelner Mensch hat. Und Robespierre weiß das ebenfalls, und darum versteht er sich in dieser Menge zu behaupten. Da kommt er! Er schreitet ruhig und bieder wie ein gemĂŒtlicher BĂŒrger voran mit seinem geheimnisvollen LĂ€cheln, das sein nĂŒchternes Profil noch magerer erscheinen lĂ€ĂŸt. Der Unbestechliche neigt den Kopf leicht auf die rechte Schulter. Seine Rechte verbirgt sich in dem blauen, zugeknöpften Rocke, die Linke hĂ€lt den Stock mit dem goldenen Apfel fest. Er geht weiter unter TĂŒcherschwenken, Hutwerfen, MĂŒtzenschleifen und Vivatgeschrei. Die Marktfrauen und Fischweiber halten ihm ihre Kinder entgegen. Eines ĂŒberreicht ihm einen Blumenstrauß. Robespierre hebt es in die Höhe und kĂŒĂŸt es. Die Frauen lĂ€cheln, kokettieren mit ihm.

ROUCHER.
Siehst du! Dort von der BrĂŒcke her
WĂ€lzt sich die große Masse.
CHÉNIER.
Wie ich das Treiben hasse!
Im Staube ihre Ehrfurcht zeigt die Rotte
Dem neuen Gotte.
CHOR.
Sehet ihr dort GĂ©rard?
Vivat GĂ©rard!

GĂ©rard dankt; aber auf ein Zeichen des Incroyable tritt er eilig aus der Reihe der ReprĂ€sentanten, nĂ€hert sich ihm und lĂ€ĂŸt sich von ihm beiseite fĂŒhren.

MATTHIEU UND CHOR sobald Robespierre erscheint.
Vivat Robespierre!
Schreit Vivat!
CHÉNIER Auf Robespierre hindeutend.
Er muß gesondert gehen.
INCROYABLE zu GĂ©rard.
Die Dame, die du meinst, mit sanfter Miene
Ist eine Blondine?
GÉRARD entzĂŒckt.
Von schlankem Wuchs! mit Augen blau als wie der Himmel, jung und hold!
Leuchtend ihr Haupthaar wie gediegnes Gold!
Licht wie die liebe Sonne!
Um ihre Lippen
Das LĂ€cheln der Madonne!
Sehr einfach angekleidet;
Keusch liegt ein Schleier ĂŒber dem Paar,
Das unter Rosen weidet!
Ein weißes Spitzenband im blonden Haar.
CHOR.
BarĂšre!
Collot d'Herbois!
Seht ihr Couthon?
Saint-Just!
David!
ROUCHER.
Gemessen ist der Raum dort
Zwischen Gott und seinen Priestern! 

Das ist Tallien!
CHÉNIER.
Das RĂ€tsel!
CHOR.
Tallien!
Fréron!
Barras!
Fouché!
ROUCHER.
Sieh nur das MĂ€nnlein!
CHÉNIER höhnisch.
Wohl Robespierre, der Kleine!
CHOR.
Le Bas!
Thuriot!
Carnot!
Robespierre!
GÉRARD..
Laß mich begegnen diesem Engelskinde!
Ich sage: Suche nur und finde!
Gleich einem Blitz war sie erschienen hier,
Und schnell verloren ging sie mir! 

So kann ich nimmer leben!
Schaff‘ sie herbei, und ich will geben
Gern alles dir!
INCROYABLE macht sich Notizen.
Du bist noch heut bei ihr!

Der Incroyable verfolgt dabei, immer mit lebhafter Aufmerksamkeit, ChĂ©nier und Roucher und heftet sich nach GĂ©rards Abgange an ihre Schritte. Noch haben sich die ReprĂ€sentanten des Volkes nicht ĂŒber den Cours-la-Reine entfernt, als auch schon durch die GĂ€rten der Tuilerien eine sehr lebhafte Schar von Merveilleusen kommt. Die Bersi als letzte unter ihnen. – Von jetzt an wird es allmĂ€hlich Nacht, aber erst völlig finster, wenn die Ronde erscheint.

ROUCHER zu Chénier.
Wie wunderbar sind die Zeiten!
Dort sieht den Ernst man schreiten:
Lauter wĂŒrdige Lichter!
Und hier freche Gesichter,
Kontraste fĂŒr den Dichter!
CHÉNIER.
Ich gehe.
ROUCHER.
Warte!
BERSI zu Roucher.
Kennst du mich nicht?

FlĂŒstert ihm schnell zu.

Chénier erwarte mich! Still, man belauscht uns!
ROUCHER.
Schon gut.
INCROYABLE tritt dreist zwischen die Bersi und Roucher.
Nun, kĂŒhne Bersi,
Mich reizt dein froher Mut!
Willst du mir folgen?
BERSI mit gleichgĂŒltigem Lachen.
Auf lange?
CHÉNIER zu Roucher.
Eine Merveilleuse!
INCROYABLE zu der Bersi.
Nur auf ein ViertelstĂŒndchen?
ROUCHER zu Chénier.
Was sagt dazu ihr MĂŒndchen?
BERSI zu dem Incroyable.
Von Herzen gern.
CHÉNIER zu Roucher.
Du hattest recht!
INCROYABLE zu der Bersi.
Nicht schlecht!
BERSI zu dem Incroyable.
So komm!

Sie folgt dem Incroyable in das Souterrain des Cafés.

ROUCHER.
Die Nacht kommt. NĂŒtze diese Stunde!

Er macht die GebÀrde des Fliehens.

Mit Tagesanbruch bist du nah der Grenze!
CHÉNIER in Verzweiflung.
Ade mein schönes Traumbild!

Die Bersi kommt eilig zurĂŒck; der Incroyable erscheint hinter einer Blumenvase als SpĂ€her.

BERSI halblaut und sehr schnell.
André Chénier, bei dir wird eine Dame
Alsbald erscheinen, die du schĂŒtzen sollst.

Sie zeigt auf Marats Altar.

Hier warte!
CHÉNIER hĂ€lt sie bei der Hand fest.
Sag‘ ihren Namen!
BERSI.
Sie nennt sich »Hoffnung« 


Der Incroyable verschwindet.

CHÉNIER.
Ich warte hier.

Die Bersi lÀuft weg.

ROUCHER.
WĂ€r‘ es die Unbekannte? Nein; es ist
Ein Hinterhalt, 'ne Falle!
CHÉNIER.
Ich seh‘ mich vor.

Er entfernt sich hastig von ihm ĂŒber den Cours-la-Reine.

ROUCHER.
Bewachen will ich ihn!

Es ist Nacht. Auf der BrĂŒcke und am Eingange zum Cours-la-Reine werden die Laternen angezĂŒndet. – Drei Patrouillen marschieren vorĂŒber, die eine von rechts, die andere von links, die dritte von der BrĂŒcke. – Sie erfĂŒllen, solange die Ronde dauert, die Szene und verlassen sie, sobald jene aufhört. – Matthieu tritt wieder auf und zĂŒndet die Laterne vor dem Altar Marats an.

MATTHIEU die Ronde mitsingend.
La, la, la.
INCROYABLE tritt, um sich spĂ€hend, aus dem CafĂ© und geht an die MĂŒndung der Seitenstraße, wo er sich hinter der Ecke des CafĂ©s verbirgt.
Nun sind wir bald im Reinen! 
 Ich will lauern.

Auf der BrĂŒcke wird die Gestalt eines Weibes sichtbar, das vorsichtig nĂ€her kommt.

MADELEINE.
Das ist der Altar.

Sie sieht sich um, die Stille beÀngstigt sie.

Niemand noch zu sehen.
Wie schaurig!

Der Incroyable blickt den Cours-la-Reine hinunter; dort erscheint der Schatten eines in einen Pilgermantel gehĂŒllten Mannes.

MADELEINE erregt.
Ha, er ist's! 
 André Chénier!
CHÉNIER nĂ€herkommend.
Ich bin's.

Madeleine versucht zu sprechen, aber in ihrer Bewegung versagen ihr die Worte.

Soll ich dir folgen?

Sie erwidert mit einer verneinenden GebÀrde.

Bist du
Gesendet? Sage, wer dich schickt.
MADELEINE sehr schwach.
Ich.

Sie nÀhert sich zitternd dem Altar.

CHÉNIER ĂŒberrascht und irregefĂŒhrt durch ihre Dienerinnentracht.
Du?
Wer bist du denn?

Der Incroyable schleicht behutsam nÀher an die Beiden heran indem er sich hinter einem Baume verbirgt.

MADELEINE um sich ihm ins GedĂ€chtnis zurĂŒckzurufen, erinnert sie ihr an die Worte, die ChĂ©nier am Abend ihrer Begegnung in Schlosse von Coigny an sie gerichtet hat.
Hast du vergessen?
CHÉNIER sinnt nach.
Nein, laß mich sinnen 

MADELEINE.
»Ihr kennt die Liebe nicht  «
CHÉNIER bei der sĂŒĂŸen Stimme Madeleines wird er mĂ€chtig von der Erinnerung ergriffen.
Ach, woran mahnt mich diese sĂŒĂŸe Stimme?
MADELEINE fortfahrend.
»Sie ist göttliche Gabe,
Ist höchstes Gut.«
CHÉNIER hingerissen.
O laß dich sehn!
MADELEINE lĂ€ĂŸt die Mantille fallen und tritt in das Licht der Laterne, die vor dem Altare Marats brennt.
Wohl kennst du mich!
CHÉNIER.
Ah, Madeleine
Von Coigny! Ihr? Ihr!
INCROYABLE fĂŒr sich.
's ist meine Blonde!
Nun eilig zu GĂ©rard!

Er entfernt sich vorsichtig.

MADELEINE fÀhrt zusammen.
Seht dorthin! Seht den Schatten!
CHÉNIER geht zu dem Winkel, in welchem der Incroyable zuvor gesteckt, sieht aber nichts.
's ist niemand hier. Doch ist der Ort
Nicht ungefÀhrlich sonst.
MADELEINE.
GewÀhlt hat ihn die Bersi.
Wenn mich Gefahr bedrohen sollte 

So bin ich eine Dienerin, die gekommen,
Den Mantel hier zu holen!
CHÉNIER.
Und Ihr schriebt
Die Briefe? Die geheimnisvolle Fremde
Seid Ihr, die lÀngstgesuchte?!
MADELEINE.
Ihr waret angesehen, mÀchtig,
Und ich beargwöhnt als verdÀchtig;
Da mußt‘ ich Euer denken!
Zu Euch den irren, schwanken, mĂŒden Schritt
Dacht‘ ich zu lenken,
Und wagt‘ es nicht!
Nun will uns das Geschick zum zweitenmal vereinen,
Als LeidensgefÀhrte, Freund und Bruder
Solltet Ihr mir erscheinen!
Oft hab‘ ich Euch geschrieben,
Weil ich von höheren Gewalten
Mich fĂŒhlte angetrieben.
Mein Herz sagt deutlich mir,
Daß edel Ihr verteidigt,
Die eines Tages Euch beleidigt!

ChĂ©nier hört, alles um sich her vergessend, ihr voll EntzĂŒcken zu.

Die Bersi hat sich meiner angenommen,
Sie war's, die mich versteckte,
Doch ist man auf die Spur mir dort gekommen.
Wohin entfliehn?
Und habt Ihr Eure Macht seither verloren,
Zu Euch nun mußt‘ ich ziehn.
Erhört mein Flehn! Verlassen!
Von Menschen, die mich hassen,
Verfolgt, verraten! Weh mir Armen!
Wollt Ihr Euch mein erbarmen?
O sagt nicht nein!
CHÉNIER mit der ganzen Begeisterung seiner Seele.
Heil dir, o SĂŒĂŸe,
Und Segen dieser Stunde!
Dankbar begrĂŒĂŸe
Ich lang ersehnte Kunde!
Mir aus der Seele treibst du Zagen und Pein!
Das Leben lieben und den Tod nicht scheu'n
Du lehrtest mich's allein!
MADELEINE ihn anlÀchelnd.
Die drohenden Gefahren
Nicht flĂ¶ĂŸen Schreck dir ein?
CHÉNIER.
Mit meinem Arme will ich dich bewahren,
Will bis zum Tod dein eigen sein!
MADELEINE, CHÉNIER.
Ja, bis zum Tode bin ich dein!

Er reicht ihr den Arm um sie wegzufĂŒhren. – Aber kaum sind sie ein paar Schritte weit gegangen, als ihnen aus dem CafĂ© Hottot heraus GĂ©rard entgegen lĂ€uft, atemlos gefolgt von dem Incroyable.

GÉRARD ihnen den Weg abschneidend.
Wie? Madeleine von Coigny!?
MADELEINE schreit auf, indem sie ihn erkennt.
GĂ©rard!
GÉRARD.
Als Straßendirne durch die Nacht spazierend!
CHÉNIER drohend.
Geh‘ deines Weges du!
GÉRARD wendet sich gegen ChĂ©nier und sucht Madeleine ihm zu entreißen.
Verbotne Ware!

ChĂ©nier zieht rasch den im Stock verborgenen Stoßdegen, und verwundet GĂ©rard im Gesicht, der in ein Geheul von Wut und Schmerz ausbricht. Roucher lĂ€uft herbei. ChĂ©nier sieht ihn und deutet auf Madeleine.

CHÉNIER.
Errette sie!

Roucher entflieht mit Madeleine.

GÉRARD der die Flucht Madeleines bemerkt, schreit den Incroyable an.
Verfolge sie!

Er zieht den Degen und wirft sich auf Chénier. Roucher spannt ein paar Taschenpistolen gegen den Incroyable.

INCROYABLE weicht zurĂŒck, als fiele ihm etwas Besseres ein.
Bis auf die Sitzung!

Flieht.

GÉRARD mit ChĂ©nier fechtend.
Samson komm‘ ich zuvor!
CHÉNIER verspottet ihn, da er sieht, wie ungeschickt er trotz seiner Tapferkeit mit dem Degen umgeht.
Nein, du gehörst ins Kloster! 
 Sieh dich vor!
GÉRARD fĂ€llt mit einem Schrei auf die Stufen des Altars.
Ah!
Du bist Chénier 
 o fliehe!

Mit erstickter Stimme.

Fouquier Tinville
Schrieb dich schon in die Liste! 
 Fort!

Röchelnd.

BeschĂŒtze Madeleine!

Chénier eilt hinweg.

INCROYABLE hinter der Szene.
Zur BrĂŒcke Peronnet!

Von allen Seiten strömt Volk herbei. Der Incroyable mit Nationalgarden.

MATTHIEU erkennt GĂ©rard in dem Verwundeten.
GĂ©rard ermordet?
CHOR.
Ha, ermordet?
INCROYABLE.
Ja, und der Mörder 

GÉRARD erhebt sich mit viel Anstrengung und findet noch so viel Kraft, um den Incroyable am Sprechen zu verhindern; lallend.
War ein Fremder!

FĂ€llt in Ohnmacht.

MATTHIEU stellt sich aufrecht auf die Stufen des Altares.
Gedungen war er von den Girondisten!

Ein fĂŒrchterlich drohendes Wutgeheul erhebt sich.

CHOR.
Tod allen Girondisten! Tötet sie!

Drittes Bild.

Der Sitzungssaal des Revolutionstribunals öffentlichen Wohlfahrtsausschusses. – Ein sehr gerĂ€umiges Zimmer zu ebener Erde, zur HĂ€fte links der Versammlungsort des Gerichtshofes, zur andern HĂ€lfte rechts wĂ€hrend der Verhandlungen der fĂŒr das Publikum reservierte Zuschauerraum; zwischen beiden eine Stange als Schranke. – Durch ein Fensterwerk im Schwibbogen des Hintergrundes, in einer riesigen Vertiefung, sieht man auf einen breiten Straßenzug, der sich im HĂ€usergewirr verliert.

Beim Aufgehen des Vorhanges bietet der dĂŒstere Ort, obwohl auch heute ein Verhandlungstag ist, einen ungewöhnlichen, sehr eigentĂŒmlichen Anblick. Auf dem Tische des Hauses steht eine kolossale Urne aus gemaltem Holz, die Nachahmung eines griechischen Altares; um sie herum mehrere ReprĂ€sentanten des Volkes mit dreifarbigen SchĂ€rpen um die HĂŒften. Neben der Urne zwei Carmagnolen in phrygischen MĂŒtzen, mit Piken bewaffnet, welche hier die Wache vorstellen; der eine von ihnen ist Horatius Cocles, wohlverdienter BĂŒrger. – Hinter dem Tische vier Soldaten der Nationalgarde, ein Sergeant und ein Offizier. – Abgesondert von allen steht der Sansculotte Matthieu feierlich aufgerichtet neben der Urne. – Die andere HĂ€lfte des Zimmers ist gedrĂ€ngt voll von verschiedenen Leuten; die Schranke ist in die Höhe gezogen, damit der Zutritt zur Urne jedem freistehe. Es werden öffentliche Opfer eingesammelt. Hinter dem Tische hĂ€ngt, von zwei Piken getragen, ein großes dreifarbiges Tuch, auf welchem geschrieben steht: »BĂŒrger! Das Vaterland ist in Gefahr.« Das Land, in den furchtbaren Krieg gegen das verbĂŒndete Europa verwickelt, fordert Geld und Soldaten.

MATTHIEU redet mit eintöniger Stimme ins Publikum, indem er nach jedem Worte gierig einen Mund voll Rauch aus seiner Tabakspfeife einzieht.
Dumouriez, der Jakobiner und VerrÀter,
Desertierte zum Feind (verdammter Schurke!),
Koburg und Braunschweig (hole die Pest sie!)
Nebst anderen Bordellen von Europa
Stehen uns gegenĂŒber! 
 Gold und Soldaten!
Sehet in dieser Urne hier und mir,
Der zu euch spricht, das Bild des Vaterlandes!

Große Stille begleitet Matthiens Rede. Niemand kommt um zu opfern.

Will niemand opfern? Nun, die Guillotine
Bewegt wohl jedem Kopf bald und Gewissen!

Einige kommen und werfen Kleinodien und Geld in die Urne.

Der Staat ist in Gefahr! Und mit Barrére
Erheb‘ ich hier den Ruf von Sankt Domingo:
»Kartoffeln und Freiheit!«

Er sieht GĂ©rard durch die Straße im Hintergrunde kommen und bricht seine Rede ab.

Seht, da kommt GĂ©rard!
Der zieht euch die Ex-Louis aus der Tasche
Mit bessern Worten wohl als ich!

Er zuckt mit den Achseln.

Was liegt
Mir auch an Witzen, ich bilde mir nichts ein drauf!

GĂ©rard kommt, auf seinen Begleiter gestĂŒtzt. Die Menge vergrĂ¶ĂŸert sich mit seiner Ankunft. Sein bleiches leidendes Aussehen gewinnt ihm allgemeine Teilnahme. Ein leidenschaftliches Geschrei empfĂ€ngt ihn.

CHOR.
Willkommen, BĂŒrger GĂ©rard, willkommen!
MATTHIEU zu GĂ©rard.
Und deine Wunden?
GÉRARD schĂŒttelt bewegt Vielen die ihm dargebo tenen HĂ€nde.
Dank euch, liebe BĂŒrger!
Mein starker Körper hat mit noch erhalten
FĂŒr mein geliebtes Frankreich!
MATTHIEU auf die Urne zeigend.
Dort ist
Dein Posten!

Wiederholt mit eintöniger Stimme.

Dumouriez, der Girondist und VerrÀter,
Desertierte zum Feinde (hol‘ die Pest ihn!),
Der Staat ist in Ge 


Er bemerkt, daß ihm die Pfeife ausgegangen ist und deutet auf GĂ©rard.

Auf das Wort verzicht‘ ich.
GÉRARD mit dem Ausdrucke wahren Schmerzes.
Blutige TrÀnen weinet Frankreich. Hört mich!
Laudun hat aufgesteckt die weiße Fahne,
In Aufruhr die Vendée. Nicht sicher mehr
Ist die Bretagne. Und Österreich mit Preußen
Und England richten schon das tödliche
GeschĂŒtz aufs Herz des Vaterlandes!
Wir brauchen Geld und brauchen Mannschaft.
Den toten Schmuck von eurem Körper, Frau'n
Von Frankreich, gebt ihn! Weihet eure Söhne
FĂŒr unsre große Mutter, MĂŒtter ihr
Von Frankreich!

GerĂŒhrt laufen die Frauen herbei, zuerst wenige, dann alle bunt durcheinander mit grĂ¶ĂŸerem LĂ€rm, zuletzt in heller Begeisterung flĂŒsternd und murmelnd. Sie werfen in die Urne, was sie von Geld oder Geldeswert bei sich tragen.

FRAUENCHOR geteilt.
Hier das Geschmeide!
Da nimm!
Den Ring!
Ein Angedenken!
Den Lohn der ganzen Woche!
Die siberne Schnalle!
Von Gold sind diese Knöpfe!
Was ich besitze!
Hier dies Kreuzchen!

Jede, die das Opfer in die Urne geworfen hat, ruft voller Begeisterung: Es lebe Frankreich! Der Enthusiasmus ergreift die ganze Menge, und jeder opfert oder sammelt mit Beifallsund Freudengeschrei. Mit einem Male ertönt die schwache Stimme einer Alten durch das Geschrei der Menge.

EINE ALTE.
Gebt Raum mir!

Alle weichen zurĂŒck und lassen das blinde MĂŒtterchen durch, das von einem Knaben gefĂŒhrt wird. Auf die Schulter des FĂŒnfzehnjĂ€hrigen gestĂŒtzt, nĂ€hert sie sich langsam dem in einen Altar des Vaterlandes verwandelten Tische.

Ich bin die alte Madelon,
Mein Sohn ist tot, er hieß Roger,
Er fiel beim Sturm auf die Bastille;
Sein Ältester erhielt bei Valmy
Die Tressen und ward dann begraben.
Wohl schon in wenig Tagen folg‘ ich nach.

Sie drÀngt sanft den Knaben von sich, um ihn vorzustellen.

Das aber ist sein zweiter Sohn, der letzte,
Und meines Alters allerletzte Freude 

Doch bring‘ ich ihn. Sagt nicht, er sei ein Kind noch.
Ich kenn‘ ihn, er wird kĂ€mpfen wie die andern.

Ein Beamter untersucht den Knaben und bekundet mit einer raschen Bewegung, daß er angenommen wird.

GÉRARD zu der Alten.
Er wird angenommen. Sag‘ uns seinen Namen.
DIE ALTE.
Roger Lefabre.

Einer schreibt den Namen ins Register.

GÉRARD.
Gut. Noch heute rĂŒckt er aus.
DIE ALTE umarmt und kĂŒĂŸt den Knaben.
Lebwohl, mein Liebling!

Sie bricht in Schluchzen aus.

FĂŒhret ihn hinweg
Von mir!

Sie lallt mit mitleiderregender Stimme, ihre zitternden Arme vermögen nicht den Knaben noch einmal zu umarmen und sinken kraftlos herab. – Zwei. Nationalgarden fĂŒhren den Knaben fort.

DIE ALTE erschrickt, als sie sich verlassen fĂŒhlt und sucht mit tastenden HĂ€nden nach einem Halt.
Wer gibt mir seinen Arm?

Viele springen ihr bei, und Madelon wird langsam hinausgeleitet.

Die ReprĂ€sentanten lassen die Urne wegnehmen und gehen dann fort, nachdem sie GĂ©rard die Hand gedrĂŒckt haben. GĂ©rard setzt sich an den Tisch und nimmt den Bericht des Zentralkomitees entgegen. Die Menge zerstreut sich nach und nach. Der Offizier gibt den Befehl, die Nationalgarden nehmen ihre Flinten und marschieren ab. Matthieu beginnt mit einem Besen das Zimmer auszukehren, das sich bald in das Tribunal und abends in das Klublokal verwandeln soll. Der Incroyable tritt ein. Das Volk ist kaum draußen, so vergißt es allen Ernst und gibt sich ausgelassener Heiterkeit hin. Durch das Fenster hinten sieht man alles auf der Gasse die Carmagnole tanzen. Dazu singt der Chor.

CHOR draußen.
Ihr Freunde, singt
Und jauchzt und springt
Und lacht und trinkt!
Froh macht der Wein!
Vergeßt den Schmerz,
Ein heitrer Scherz
Erfreut das Herz 

Schenkt wieder ein!
Kennt ihr das Liedchen noch?
Die Freiheit lebe hoch!
Zerreißt dem Schuh die Sohle.
Ob jung ihr oder alt!
Ja, tanzt die Carmagnole,
Wenn die Kanon‘ erschallt!

Matthieu Populus stellt den Besen in die Ecke und setzt sich auf eine Bank außerhalb vor die TĂŒr des Saales, um ungestört zu rauchen.

INCROYABLE nÀhert sich Gérard.
Der Vogel ist im Netze!
GÉRARD mit einem Freudenschrei.
Sie!?
INCROYABLE.
Das MĂ€nnchen.
Im Luxembourg.
GÉRARD.
Seit wann?
INCROYABLE.
Seit heute morgen.
GÉRARD.
Und wie?
INCROYABLE.
Ein Zufall.
GÉRARD.
Wo?
INCROYABLE.
In Passy,
Bei einem Freund.
GÉRARD.
Und sie?
INCROYABLE.
Noch keine Spur
Zu finden.

Scherzend.

Doch dem MĂ€nnchen folgt ja immer
Das Weibchen nach. Sie wird aus freien StĂŒcken
(So mein‘ ich) zu uns kommen bald.
GÉRARD mißtrauisch.
Sie kommt nicht.

In der Ferne ĂŒberall ein lautes verworrenes Geschrei.

INCROYABLE.
Da höre!
GÉRARD.
Das Geschrei!

Lauscht aufmerksamer.

Wohl Gassenbuben 

INCROYABLE.
Nein, nein. Ausrufer sind's, ich hör‘ es.

Man sieht durch den Eingangsbogen des Sitzungssaales von der Straße rechts kommend einen Ausrufer, welcher schreit: »Die Ă€ußerst wichtige Verhaftung des AndrĂ© ChĂ©nier!«

Und das Geschrei dringt bald auch ihr ins Ohr!
GÉRARD der mit einer schwachen GebĂ€rde des Widerstandes den Incroyable von sich abwehrt.
Was weiter?
INCROYABLE mit einem sprechenden Blick der Ironie.
He, was weiter?
Wenn solch ein Frauenzimmer
Auf ihren Liebsten harret,
Er aber kehrt ihr nimmer 

Und Sehnsucht quÀlt und narret,
Dann, glaube mir, selbst die sonst sehr geduldig,
Wird toben wie besessen
Und hat die Vorsicht, die sie schuldig,
Gar leicht und schnell vergessen.
Da lernet laufen die Lahme
Und jagen und wagen die Zahme!
Plötzlich von unten erschallt sein Name,
Nun ist sie vollends toll gemacht:
VerklÀrt wird ihre Miene,
Ihr Herz ist wild entfacht,
Das schwache Weib verwandelt sich zur Heroine.
Nichts ist zu tun fĂŒr uns als warten hier!
Geduld nur, und sie kommt zu dir!

Die GebÀrden eines Taschenspielers nachahmend.

Ich sage: eins, zwei, drei,
Das Wunder eilt herbei!
GÉRARD hat sich erhoben und geht erregt auf und ab.
Dann desto stĂ€rker haßt sie mich!
INCROYABLE.
Was tut das? Zweierlei sind bei den Weibern
Der Körper und die Seele. Nimm den Körper,
So wÀhltest du das Bess're!

Heißt ihn mit gebietender GebĂ€rde schreiben.

Formulier‘ die Klage!
André Chénier verfÀllt noch heut dem Tribunale.
Fouquier Tinville notiert‘ ihn 
 Schreibe!

GĂ©rard setzt sich zum Schreiben. Der Incroyable entfernt sich von ihm, um vom Fenster aus die Volksbewegung und die Weiber zu beobachten, welche die Carmagnole tanzen.

GÉRARD schwankend und zaudernd.
Was will ich zaudern?
Ist doch Chénier schon vorgemerkt
In Tinvilles Liste. Sein Schicksal ist besiegelt.
Heut oder morgen 


Die Feder weglegend.

Nein, ich kann nicht, nein,
Es geht nicht.
INCROYABLE der Gérard zögern sieht, tritt wieder zu ihm.
Wie die Stunden fliegen!
Die Straße fĂŒllt sich schon.

Entfernt sich abermals.

GÉRARD nimmt die Feder wieder zur Hand und ĂŒberlegt.
Als Feind des Vaterlandes?

Lacht.

Die alte Floskel, die

Schreibt.

zum GlĂŒck noch immer
Beim Volke ihre Wirkung tut.

HĂ€lt inne und schreibt weiter.

In Konstantinopel geboren? 


Setzt wieder ab.

Seltsam!
Studierte zu Saint Cyr? 
 Soldat 


Er ĂŒberlegt eine Weile, dann im Triumph ĂŒber einen blitzartig aufleuchtenden Gedanken schreibt er sehr schnell.

Ein HochverrÀter!
Ein Helfershelfer Dumouriez‘! 
 Und Dichter?
Demnach ein Feind der Tugend und der Sitte!

Bei dieser letzten Anklage entgleitet die Feder seiner Hand. Seine starren Augen fĂŒllen sich mit TrĂ€nen; er steht auf und geht langsam hin und her.

Dereinst schritt ich mit Freuden
Zum hohen heil'gen Rachewerke,
Rein, in der Unschuld StÀrke,
Ein Freier wĂ€hnt‘ ich, ach, zu sein
Und blieb ein Sklave, der den Herrn nur tauschte,
Der sich im Dienste der Begier berauschte!
Wie seltsame GefĂŒhl‘ in mir verein‘ ich!

GedrĂŒckt, mit bitterem Lachen.

Und will ich töten, wein‘ ich!

Seine gepreßte Stimme wird plötzlich von Begeisterung geschwellt.

Ich, der erlauchten Freiheit treuer Sohn,
Der ihren Schmerzensschrei
Mit eignen Leides Klagen einst verbunden,
HĂ€tt‘ ein so niedrig kleines Ziel
Erhabener Gedanken hier gefunden?

Er unterbricht sich; alte Erinnerungen kehren ihm wieder, seine Stimme ist voll Trauer.

Ach, woran mahnt ihr mich,
Der alten TrÀume sel'ge Stunden! 

Das Gewissen der Menschheit,
Ich wollt‘ es erwecken.
Das Elend lindern, mit EngelsflĂŒgeln
Die Armut decken,
Die Welt erheben zum Pantheon!
Die Menschen sollten Götter werden
Im Geist der Wahrheit,
Empfangen schon auf Erden
Den ihnen verheißenen Lohn! 

Was frag‘ ich heut nach heil'gen Schmerzen,
Gemeinen Haß im Herzen?! 

Ein Haß, entfacht von Liebe 

O bittrer Hohn!

Verzweifelt.

Ein Sklave bin ich nur!
Und meine jetzige Herrschaft heißt die Wollust! 

's ist alles LĂŒge, wahr nur die Begierde.

Er sieht den Incroyable wiederkommen und unterschreibt.

INCROYABLE.
Nun endlich 
 doch wo find‘ ich dich hernach?
GÉRARD.
Hier bleib‘ ich.

Der Incroyable geht fort in demselben Augenblick, in welchem der SekretĂ€r des Revolutionstribunals auftritt, ein kleiner schmieriger Knirps, der ein großes BĂŒndel Papiere unter dem Arme hĂ€lt. GleichmĂŒtig und still geht der SekretĂ€r auf GĂ©rard zu und bleibt, seine Befehle erwartend, vor ihm stehen. GĂ©rard ĂŒbergibt ihm andere Papiere, mit ihnen das Verzeichnis der Angeklagten, die vor dem Gericht erscheinen sollen, ein Verzeichnis, das mit ChĂ©nier als dem letzten abschließt. Der SekretĂ€r verschwindet durch eine kleine TĂŒr im Winkel, die er hinter sich zumacht.

MADELEINE tritt von der dem Abgange des Incroyable entgegengesetzten Seite her in zerzauster Toilette auf: man sieht sie an der TĂŒr mit Matthieu verhandeln.
Charles GĂ©rard.
MATTHIEU ihr GĂ©rard bezeichnend.
Dort. Nur nÀher!

GĂ©rard hebt beim Rauschen der Kleider Madeleines den Kopf.

MADELEINE die eingetreten ist, zu GĂ©rard.
Ich weiß nicht, ob Ihr meiner Euch erinnert.
Ich bin Madeleine von Coigny.

Sie hĂ€lt eine Bewegung GĂ©rards fĂŒr eine Abweisung und fĂŒgt mit flehender Stimme hinzu.

Schickt mich nicht weiter!
Denn, wenn Ihr mich nicht hört, bin ich verloren.
GÉRARD.
Du wirst erwartet! Ich schaffte dich hierher.
Ich bin's, der eine Meute Hunde losließ
Auf deine Spur! AllĂŒberallhin
Verfolgte dich mein scharfes Aug‘ zu jeder Stunde.
Um dich zu fangen, fing ich deinen Liebsten.
MADELEINE ĂŒberrascht von der Heftigkeit seiner Rede, bleibt einen Augenblick bestĂŒrzt, dann aber, sich ihrer SchwĂ€che schĂ€mend, ruft sie mit Betonung aus.
Nun habt Ihr mich! Nehmt Rache denn!
GÉRARD mit erstickter Stimme.
Nicht Rache.
MADELEINE.
Warum dann wollt Ihr hier mich sehen!
GÉRARD.
Warum dich sehen hier? Um dich zu haben!
Weil es gewollt so deines Lebens Stern.
Weil es gewollt mein ĂŒbermĂ€cht'ger Wille.
Unser VerhĂ€ngnis siehst du sich erfĂŒllen.

Mit Zartheit.

Du warst mein Sehnen, da wir noch als Kinder
Zusammen spielten auf der weiten Wiese,
Wo mit dem Duft der KrÀuter sich vermischte
Der Hauch der wilden Rosen. Du warst mein Wunsch,
Als man mir sagte: »Da hast du die Livree.«
Der Abend kam, da Menuett zu tanzen
Du angefangen hast, ich mit den neuen Tressen
Mußt‘ an der TĂŒre stehn, den Vorhang aufziehn.
Heiß war an jenem Abend mein Verlangen.
Seit jenem Abend fest in meiner Seele
Stand der Gedanke: Du wirst die Meine!
Du warst mein Traum der Zukunft! 
 Doch, o Hohn,
In deinen Augen glĂ€nzt‘ ein andrer schon:
Chénier! Das Schicksal, welches eigensinnig
Verflicht verschiedne LebenslÀufe, bringt
Von ungefÀhr mir den Rivalen her.
Alles durchschaut‘ ich! HaßerfĂŒllt,
Weil ungeliebt von dir, nahm ich den Abschied 


Er verharrt eine Weile in traurigem Schweigen.

Und nicht Chénier hat mich verwundet, nein
Dein Schreckensschrei, du riefst: GĂ©rard!
Und dennoch bliebst du meine Liebe!

Zart.

Die zarte Schönheit deiner sĂŒĂŸen Reize
Macht mich zum Narren, Schurken und VerrÀter!
Jedoch, was tut das? Sei's! Nur einen Blick
Der Liebe aus den schönen blauen Augen
Sollst du mir einmal schenken, erlauben mir
Ein einzig Mal nur, meine beiden HĂ€nde
Ins Meer des goldnen Haars dir zu versenken!

Sich kĂŒhn aufrichtend.

Wie, meiner Liebesglut willst du entgehn?
MADELEINE.
Ich laufe dort hinaus
Und rufe meinen Namen aus,
Der Tod wird mich befreien!
GÉRARD eilt schnell zwischen Madeleine und die TĂŒr.
Du tötest deinen Freund! Nein, dir zum Trotze
Nenn‘ ich dich mein!
MADELEINE stĂ¶ĂŸt einen Schreckensschrei aus.
Soll ich mit meinem Körper
Sein Leben dir bezahlen 
 nimm ihn hin!

Sie geht langsam auf ihn zu, ein erhabenes Opfer.

GÉRARD.
Groß ist die Liebe!
MADELEINE.
Von Blut gerötet
War meine Schwelle,
Da sie die Mutter mir getötet –
Sie hoffte mich zu wahren.
Und kaum mit meiner Bersi
Entging ich den Gefahren.
Nur wenig Schritte hatten wir gemacht
In finstrer Nacht,
Der flammt‘ uns grell entgegen
Auflodernde Helle.
Mein Vaterhaus!
Ein Feuermeer die teure Stelle!
Ich floh verlassen
Durch fremde Gassen.
Der Hunger und das Elend machten
Mir mĂŒrb‘ die Glieder 

Krank fiel ich nieder!
Die Bersi jammert meine Jugend,
Und ihre Tugend
Verkauft sie der Schande zum Opfer fĂŒr mich.
So bring‘ ich UnglĂŒck allen, die mich lieben.

Die Augen Madeleines leuchten plötzlich auf von großer Freude.

Da weicht das Dunkel,
Der Himmel öffnet sich,
Ich hör‘ es wie ein Singen
Erklingen:
»Hoff‘ und lebe!
Dein GemĂŒt erhebe!
Aus lichter Ferne
GrĂŒĂŸen meine Sterne,
Sie leuchteten dir gerne!
Ich weck‘ und stille dir dein Sehnen,
Ich heile Wunden, trockne deine TrÀnen
Mag alles rings verderben,
Ich kann nicht sterben!
Mag auch die Welt in Rauch verwehen,
Ich muß bestehen!
Mir gib dich hin!
Auf mich wirf deiner Seele Leid,
Vertrau‘ mir deine Not und Traurigkeit,
Zu helfen dir bin ich bereit,
Weil ich die Liebe bin!«
Dem himmelischen Befehle
Bin ich gefolgt, und es lebt meine Seele!
Willst du den Körper rauben mir,
Was liegt daran?
Magst du ihn nehmen,
Wenn nur der Geist dem Tod entrann!

Der SekretĂ€r tritt durch die TĂŒr des kleinen Zimmers, nĂ€hert sich gerĂ€uschlos GĂ©rard, legt mehrere beschriebene BlĂ€tter vor ihn hin und verschwindet wieder auf demselben Wege.

GÉRARD nimmt die Papiere, die Liste der Angeklagten; ChĂ©niers Name fĂ€llt ihm in die Augen.
Verloren! Gern fĂŒr ihn mein Leben gĂ€b‘ ich!
MADELEINE voll Freude.
Ihr könnt ihn retten! Erst heut hat man ihn eingesperrt!
GÉRARD.
Doch auch fĂŒr heute hat ein Feind ChĂ©niers
Berufen das Gericht schon 
 er muß sterben!

Von der Straße her dumpfer LĂ€rm der Menge, die in Erwartung des Gerichts dem Hause zuströmt.

Schon drÀngt das Volk, es will ein Schauspiel wieder
Voll Blut und TrÀnen sehn.

Aus den anstoßenden Zimmern hört man GerĂ€usch von Gewehrkolben und SĂ€beln der Gendarmen.

Da hörtet Ihr
Das Stampfen und Gerassel? Die Gendarmen!

Mit GebÀrden der Verzweiflung.

Schon bringen sie Chénier!
MADELEINE aufschreiend.
Errettet ihn!
GÉRARD.
Die Revolution verschlingt nun, ach,
Die eignen Söhne!

Von einem Gedanken ĂŒberrascht, lĂ€uft er an den Tisch und schreibt schnell ein Billett an den PrĂ€sidenten. Madeleine nĂ€hert sich ihm langsam und kĂŒĂŸt ihm, nachdem er die Feder weggelegt hat, die Hand.

Ja, durch dein Verzeihen
Find‘ ich mich wieder! Dank dir!
Wer ihn verleumdet, wird ihn auch verteid'gen!

Matthieu tritt ein. GĂ©rard findet kaum Zeit, ein Wort mit Madeleine zu sprechen und Matthieu das Billett fĂŒr Dumas zu ĂŒbergeben. Dann zieht er sich mit Madeleine in den Hintergrund auf die Seite des Gerichtshofes zurĂŒck. Das Publikum strömt lĂ€rmend und leidenschaftlich erregt in den Saal. Matthieu drĂ€ngt sich durch die Menge durch und kehrt dann auf seinen Posten an der BarriĂšre zurĂŒck. Einige alte Weiber setzen sich auf die BĂ€nke und stricken, andere ziehen aus ihren Körben und Beuteln Brot, KĂ€se und Wurst hervor und essen.

MARKTWEIBER zu einer Alten.
Mutter Cadet! Dicht an die Schranken ‚ran!
MATTHIEU die Weiber beiseite stoßend.
Halt, BĂŒrgerin, nicht unbescheiden sein!
ANDERE MARKTWEIBER die mit ihren GefÀhrtinnen eintreten.
Von hier aus sieht und hört man ausgezeichnet!
MATTHIEU fĂŒr sich.
Heut wird's, so scheint es, was besondres geben.
EIN FISCHWEIB zu einer Alten.
Komm hierher, BĂŒrgerin Babet!
ANDERE.
O nein!
Hier sieht man ja den Kerlen in den Magen!

GelÀchter.

EINIGE CARMAGNOLEN beladen mit Flinten, Piken, SÀbeln und Pistolen im Gurt oder in der SchÀrpe, stehen rauchend beieinander.
Wohl viele »Ex!«
ANDERE.
Ein PfÀfflein.
ANDERE.
Auch ein Dichter

Die Weiber fangen an zu streiten.

WEIBER.
So kommt doch!
ANDERE.
Ja.
DIE VORIGEN.
Macht Platz!
DIE ANDEREN.
Geht ihr!
MATTHIEU.
He, ihr da! Haltet Ruhe, BĂŒrgerinnen!
WEIBER einander begrĂŒĂŸend.
Euch geht's nach Wunsche?
ANDERE.
Ja, und euch?
WEIBER.
Na, nur so, so.
ANDERE.
Ihr wart wohl auf dem Markte?
WEIBER.
Nein.
Wir kommen von den Hallen. Was gibt's Neues?
ANDERE.
Ei, nichts.
WEIBER.
Vielleicht erfÀhrt man hier was?
ANDERE.
Das Brot wird wieder teurer.
WEIBER.
Ja, ja, ja.
ANDERE.
Das macht der Hund in England,
Der gottverdammte Pitt!

Mehrere in Lumpen gekleidete Gestalten mit schrecklichen Gesichtern kommen.

MATTHIEU ihnen Platz schaffend.
Platz den Geschwornen!
GÉRARD der Madeleine die Geschworenen zeigt.
Seine Richter,
Sie kommen da!

Die Richter erscheinen, nachdem die Geschworenen an ihrem Tische Platz genommen haben; es sind fĂŒnf MĂ€nner, mit großen HĂŒten bedeckt, an denen riesige Federn stecken; sie tragen dreifarbige SchĂ€rpen unter ihren theatralisch in Falten geworfenen MĂ€nteln.

MARKTWEIBER.
Den Vorsitz hat Dumas.
ANDERE die Richter bei Namen nennend.
Vilate.
ANDERE.
Der Maler!
MARKTWEIBER.
Der dort ist Nicolas, Tribun der Druckerei!
MÄNNER.
Seht doch, da kommt Fouquier!
ALLE.
Der öffentliche
AnklÀger kommt!

Beim Eintritt Fouquier Tinvilles drĂ€ngt sich die Menge zusammen und schafft einen breiten Durchgang fĂŒr den »öffentlichen Vertilger«. Mit einem großen BĂŒndel Akten unterm Arm geht er, ohne jemand anzusehen, unter allgemeinem Schweigen auf seinen Platz, begrĂŒĂŸt niemand, setzt sich und mustert seine Papiere, in welche er einige Notizen einschreibt.

MADELEINE sich furchtsam an Gérard drÀngend.
Die Angeklagten!
GÉRARD zeigt auf die noch geschlossene TĂŒr hinter den Geschworenen.
Sind dort hinter der TĂŒr.

Die TĂŒr wird geöffnet. Madeleine erstickt einen Aufschrei.

MADELEINE.
O Gott, da fĂŒhrt man sie heraus!

Hinter acht Gendarmen kommen, von der Treppe herab, in der Mitte von Soldaten und Carmagnolen die Angeklagten, einer nach dem andern. Andere Gendarmen schließen den Zug. ChĂ©nier, der der letzte ist, geht in Gedanken versunken, wie wenn alles um ihn her, Tribunal, Soldaten und Publikum, ihn nichts anginge.

MADELEINE.
Nicht blickt er um sich 
 ach, wohl denkt er mein!
MATTHIEU zu den zischelnden Marktweibern.
Gebt Ruhe!

Der PrÀsident Dumas nimmt ein Blatt und ruft mit lauter Stimme die Angeklagten auf. Diese erheben sich entweder freiwillig von ihren Sitzen oder lassen sich von einem Gendarmen oder einer Carmagnole dazu nötigen.

DUMAS ruft.
Gravier de Vergonnes.
FOUQUIER liest eine Notiz ab.
Ein Ex-Berichterstatter.
CHOR lÀrmend.
Ein VerrÀter! Fort mit ihm!
DUMAS bedeutet den Angeklagten, sich zu setzen, und ruft einen andern auf.
Laval von Montmorency 

FOUQUIER.
Vom Kloster von Montmartre.

Eine ehrwĂŒrdige Schwester mit schneeweißem Haar erhebt sich.

CHOR schreit.
Eine Aristokratin!

Die Nonne hebt die Hand auf um zu sprechen.

FOUQUIER.
Ruhe!
CHOR.
Was willst du noch, du Alte? Schweig‘ und stirb!

GelÀchter.

Die Nonne wirft einen Blick der Verachtung ins Publikum und setzt sich.

DUMAS wie oben.
Legray!

Eine junge Dame steht auf, die sprechen will; das Publikum zischt sie nieder.

CHOR zischt.
Pst! Pst!
DUMAS.
André Chénier.
GÉRARD zu Madeleine.
Nur mutig!
MADELEINE zu Chénier hinblickend.
O Liebe!
CHOR.
Das ist der Poet! Fouquier
Tinville wird seine SĂŒnden nennen!
FOUQUIER liest.
Schrieb gegen die Revolution und war
Soldat mit Dumouriez 

CHOR mit einem Schrei des Abscheus.
Ein HochverrÀter!
CHÉNIER zu Fouquier.
Gelogen! Dreist gelogen!
FOUQUIER UND DUMAS zu Chénier.
Schweige!
GÉRARD UND CHOR zu ChĂ©nier.
Rede!
CHÉNIER voll Zorn.
Ich war Soldat und trotzte oft dem Tode,
So trotz‘ ich dem auch, der hier in der Mode!
Ich war ein Dichter,
Entlarvt hab‘ ich die Heuchler und entlarv‘ auch
Hier meine Richter!
Wie mit dem Schwerte, so auch mit der Feder
Dem Vaterland nur dient‘ ich.

Ein langes Gemurmel folgt diesen Worten. Dumas hat nicht den Mut, ihn zu unterbrechen.

Auf meinem Schifflein hoch
Der Ehre weiße Fahne,
Hab‘ fröhlich ich durchzogen
Des Lebens Ozeane,
Leicht unterm blauen Himmelsbogen
Bezwang ich Sturm und Wogen.
Ward ich ein Opfer trĂŒgerischen Winden,
Und soll die heitre Fahrt ihr Ende finden,
So sag‘ ich: gut!
Es mögen mich treiben
Zum Riffe die Wellen,
Doch mag auch das Schiff zerschellen,
Rein soll die Flagge bleiben!

Gegen Fouquier Tinville gewendet.

All deine RĂ€nke werden hier zuschanden,
Nein, ich bin kein VerrÀter!
Du tötest mich, doch meine Ehre lebt!
FOUQUIER.
Man wird die Zeugen hören.

Matthieu und der Incroyable, der schon vom Beginn der Sitzung an gegenwÀrtig, melden sich mit erhobenen HÀnden.

GÉRARD drĂ€ngt sich mit Gewalt hervor.
Laßt mich hindurch, mich, Charles GĂ©rard!
FOUQUIER.
Es sei. Nun rede!
GÉRARD auf Tinvilles Papiere zeigend.
Jene Zeilen dort
Enthalten lauter LĂŒgen!
FOUQUIER ĂŒberrascht.
Wie?
Du schriebst sie selbst doch?!

Er hÀlt ihm das Blatt vor.

GÉRARD.
Ich gab ihn an, beschuldigte ihn fÀlschlich.

Bewegung in der Menge und Geschrei der Überraschung.

FOUQUIER richtet sich auf und schlĂ€gt wĂŒtend auf das Blatt.
Ich aber halte aufrecht, was geschrieben!
GÉRARD mit drohender Miene zu Fouquier Tinville.
Das ist ein Schurkenstreich!
FOUQUIER.
Du schmÀhst das Vaterland und die Gesetze!
CHOR.
Er ist verdÀchtig, ward bestochen! Schweige!
GÉRARD hĂ€lt dem Toben mit erhobener Stimme stand, ohne sich durch das Geschrei der Menge beirren zu lassen.
Hier heißt Gesetz, was schnöde Tyrannei!
Hier herrschen WillkĂŒr, Rachsucht, Mordgier.
Der Patrioten Blut verspritzt man!
Wir selbst zerfleischen Frankreichs Mutterbrust!
Er ist ein Sohn der Revolution!
Den Kranz reicht ihm, nicht gebt ihm Preis dem Tode!
Der Ruhm ist unser Vaterland!
CHOR mit wĂŒtenden Dazwischenrufen.
An die Laterne! Erzfeind der Gesetze!
Macht kurzen Prozeß! An die Laterne!
Er ist ein HochverrÀter, ist bestochen!
Entzieh‘ ihm doch das Wort, Dumas!

In der Ferne Generalmarsch der Tambours und Kriegsgeschrei.

GÉRARD mit gewaltiger Stimme, mit der Hand hinausweisend, woher die Trommeln ertönen.
Hör‘ mich, betörtes Volk:
Dort ist das Vaterland, wo man verblutet,
Den SĂ€bel in der Faust, nicht hier, wo man
Die Dichter mordet!

Er schiebt den Gendarm beiseite, der ihn von ChĂ©nier trennt, und fĂ€llt diesem um den Hals. Fouquier Tinville gibt dem SekretĂ€r einen Wink, er möge die Geschworenen zurĂŒckziehen lassen. Sie leisten gehorsam und stumpfsinnig Folge wie das Vieh.

CHÉNIER zu GĂ©rard.
Du EdelmĂŒt'ger, Großer! Sieh: ich weine!
GÉRARD.
Blicke dich um! 
 Das blasse Antlitz dort 

Sie ist's!
CHÉNIER sieht Madeleine.
Sie? Madeleine? So seh‘ ich sie
Noch einmal, und nun sterb‘ ich glĂŒcklich!
GÉRARD.
Ich hoffe noch.

Die Geschworenen kehren zurĂŒck. Ihr Obmann lĂ€ĂŸt durch den SekretĂ€r Dumas das Verdikt ĂŒberreichen. Tiefes Schweigen.

DUMAS mit einem raschen Blick auf das Papier.
Tod.
FOUQIER zu den Gendarmen.
Fort mit den Gefangenen!

GĂ©rard, der wie versteinert stehn geblieben ist, rafft sich auf. Er sieht Madeleine, versteht ihren flehenden Blick und lĂ€uft zu ihr, um sie ChĂ©nier zuzufĂŒhren. Die Menge reißt ihn wieder zurĂŒck. ChĂ©nier steht bereits auf der Schwelle.

MADELEINE ruft verzweifelt.
André!

Die ThĂŒr schließt sich hinter ChĂ©nier.

Auf Wiedersehen!

Viertes Bild.

Der Hof der GefĂ€ngnisse von St. Lazare frĂŒheres Kloster von St. Vincenz von Paula, das zum Kerker umgewandelt wurde.

AndrĂ© ChĂ©nier befindet sich im Hofe der Gefangenen; er sitzt unter der Laterne, die den Hof beleuchtet und schreibt mit einem StĂŒck Blei auf ein kleines Brettchen, wie einer, der ĂŒber Versen sinnt; in seinen Augen lodert das Feuer der Begeisterung. Roucher weilt bei ihm. – Es ist tiefe Nacht.

SCHMIDT tritt in den Hof und nÀhert sich Roucher.
Hör‘, ich bedaure sehr, doch wird es Zeit ..
ROUCHER deutet auf ChĂ©nier und legt den Finger auf den Mund; dann durchsucht er seine Taschen, findet ein paar GeldstĂŒcke und gibt sie Schmidt.
Geduld noch einen Augenblick!
CHÉNIER hört auf zu schreiben.
Nicht mehr!
ROUCHER.
Lies!
CHÉNIER.
Ein paar Verse 

ROUCHER.
Lies doch!
CHÉNIER stellt sich unter die große Laterne, die einen schwachen Lichtschein verbreitet, und liest die Verse, die er eben gemacht hat.
Gleich einem FrĂŒhlingsabend,
Der mit wĂŒrzigen DĂŒften
Die Fluren noch erlabend,
Dahin fließt in den LĂŒften,
FĂŒhl‘ ich mein blĂŒhendes Leben
In seligem Genusse
Unter der Muse Kusse
Verströmen und entschweben.
Die Straße muß ich gehen,
Die Bess're sind gegangen,
So will ich ohne Bangen
Mein nahes Ende sehen,
Und sollte mich des Todes Nacht
In kurzem schon ereilen,
Bevor ich fertig noch gemacht
Die letzten Liederzeilen, –

Voll Begeisterung.

Sei's! Wenn mit dir im Bunde,
O Göttin, nur mein Leben endet!
Du hast zur letzten Stunde
Mir deinen Trost gespendet!
Du Himmlische, nahst wieder,
Entziehst mich dem Verderben:
Gib mir das schönste deiner Lieder
Und laß mich sterben!

Roucher umarmt ChĂ©nier. Schmidt kehrt zurĂŒck; die beiden Freunde schĂŒtteln einander die HĂ€nde und trennen sich bewegt. Hinter den Gittern recken sich die schlaftrunkenen Soldaten. In weiter Ferne erklingt durch das Schweigen der Nacht, das nur zuweilen vom Schritte der die Straßen durchstreifenden Patrouillen unterbrochen wird, eine Stimme, die singt. Es ist Matthieu, der als »Nachtigall der Revolution« sein Lieblingslied, die Marseillaise, hören lĂ€ĂŸt.

Man klopft an das Hoftor. Schmidt kommt eilig wieder und öffnet. Gérard und Madeleine treten auf.

GÉRARD zeigt, auf Madeleine deutend, die Einlaßscheine vor.
Ihr ist gestattet worden, noch einmal ihn
Zu sprechen 

SCHMIDT unterbricht ihn.
Wen hier will sie sprechen?
GÉRARD.
André Chénier.
SCHMIDT.
Ganz recht.

Macht Gérard ein Zeichen zu warten und sucht im Register die Nummer der Zelle, wÀhrend er Chéniers Namen murmelnd wiederholt.

MADELEINE entschlossen zu GĂ©rard.
Erinnert Ihr Euch wohl, was Ihr geschworen?

GĂ©rard macht eine abwehrende Bewegung, aber seine Blicke begegnen denen Madeleines, die eine verzweifelte Bitte aussprechen.

MADELEINE zu Schmidt.
Höre! Bei den Verurteilten von morgen
Gibt es auch eine Dame
SCHMIDT.
Die Legray!
MADELEINE.
Wir wollen sie befrein.
SCHMIDT betrachtet sie erstaunt und wiegt den Kopf hin und her.
Jedoch ihr Name
Steht einmal auf der Liste da.
MADELEINE.
Was liegt am Namen,
Wenn eine andre sich findet zum Ersatz?
SCHMIDT.
Nun gut 
 doch welche?
MADELEINE auf sich zeigend.
Diese hier!
SCHMIDT ĂŒberrascht zu GĂ©rard.
Sie?

Zu Madeleine.

Du, BĂŒrg'rin, selber?

GĂ©rard nicht bejahend.

MADELEINE juwelen und eine kleine Börse hervorholend.
Nehmt! Hier dieses Gold
Und die Juwelen!
SCHMIDT nimmt die Börse, das blanke Gold sticht ihm in die Augen.
Ah, ein seltner Anblick
Zur Zeit der Assignaten!

Zu Gérard, mit der GebÀrde des Kopfabschlagens.

Ich möchte nicht 

Verstehst du? Nun 
 ich weiß von gar nichts!

Zu Madeleine.

Und heißt Ihr gern Legray, was geht es mich an?!

Mit Humor.

Ich weiß von gar nichts! Gar nichts!

Er nimmt Madeleine den Erlaubnisschein ab, um ihn der Legray zu geben, steckt Gold und Juwelen ein und geht, den Gefangenen zu holen.

MADELEINE GĂ©rard dankbar die Hand drĂŒckend, die er an die Augen fĂŒhrt.
Ich segne das Schicksal und segne den Tod!
GÉRARD.
O Madeleine, du machst den Tod
Zum neidenswerten Schicksal!

Da er Schmidt und Chénier kommen hört, lÀuft er nach dem zweiten Hofe zu fort, wÀhrend er mit erstickter Stimme ausruft.

Sie retten! Ja, ich will zu Robespierre!
CHÉNIER tritt aus dem dunkeln Gange und erkennt beim Lichte der Laterne voll EntzĂŒcken Madeleine.
Du kommst daher, und Himmelslicht
Erhellt die dĂŒstern RĂ€ume,
Du liebes Engelsangesicht,
EntzĂŒcken meiner TrĂ€ume!

Sie zÀrtlich anblickend.

Wie deine Blicke
Mich dieser Welt entrĂŒcken!
All‘ die Zeiten
Seh‘ ich gleiten
HinĂŒber still zu Ewigkeiten!
Alles Sehnen gestillt,
Und alles Verlangen erfĂŒllt!
MADELEINE glĂŒckselig lĂ€chelnd.
Mein Freund, du siehst mich hier,
Nicht um zu scheiden,
Nein, weil ich sterben will mit dir!
Vorbei das Leiden!
Ein Schicksal winkt uns beiden!
Die letzten Worte von den Lippen
In Lieb‘ einander kĂŒssen wir!
CHÉNIER.
Des Lebens Krone,
Mein höchstes Ziel erscheint:
FĂŒr ewig werden wir vereint!
MADELEINE sich dicht an ihn schmiegend.
Ich rette eine Mutter!
Der andern schenkt‘ ich meinen Namen,
Ich heiße jetzt Lucie Legray!

Chénier schweigt. Die erste MorgendÀmmerung bricht an.

Siehst du? Der ungewisse Schein der DĂ€mm'rung
FĂ€llt schon herab auf Stadt und Gassen!

Mit den Armen ChĂ©niers Hals umschlingend, drĂŒckt sie sich an seine Brust.

Noch einmal will ich dich umfassen!
CHÉNIER kĂŒĂŸt liebestrunken ihre Haare, Augen und Lippen.
O wunderbare Schönheit! Höchstes Gut!
O Preis der Welt!
Nun bist du mein, mit dir sind mir zu eigen
Die Erde und das Meer!
Mein ist des Himmels Sternenzelt.
Mein Alles, du mein Alles!

Es ist Tag geworden. Trommelwirbel. Die Soldaten treten ins Gewehr. Schmidt schließt die Zellen auf. In zerstreuten Gruppen fĂŒllen die Gefangenen in Ă€ngstlicher Erwartung des Karrens den weiten Raum. ChĂ©nier und Madeleine scheinen alles um sich her vergessen zu haben.

CHÉNIER UND MADELEINE.
Die Liebe siegt, wo ist dein Stachel, Tod?
Dank sei dem Schicksal, das uns half aus tiefster Not!
Mit dir zusammen sterben heißt unsterblich werden!
FĂŒr ewig, du Geliebte(r) mein!

Ein Sonnenstrahl dringt durch den zweiten offenen Hof, so daß der mit großem LĂ€rm durchs Tor hereinrasselnde Karren, der von reitenden Gendarmen begleitet wird, vom Morgenrot wie ĂŒbergoldet ist.

CHÉNIER Madeleine den Wagen zeigend.
Dort ist der Wagen!
MADELEINE.
Ja, der Wagen!
CHÉNIER.
's ist unser Hochzeitswagen!
MADELEINE.
FrĂŒh mit dem Tage will er kommen!
CHÉNIER.
Vom roten Gold Aurorens ĂŒberglommen!
MADELEINE.
Er soll uns miteinander tragen
Hinauf ins Morgenrot!
CHÉNIER.
Er kommt, uns abzuholen,
BekrÀnzt mit Rosen und Violen!
MADELEINE, CHÉNIER einander umschlungen haltend.
Sei uns willkommen, Tod!

Die Verurteilten steigen, einer nach dem andern, je nachdem sie aufgerufen werden, zu dem Karren hinauf; die Mehrzahl stumpf und gleichgĂŒltig, einige mit Ungeduld. Nur eine, die Legray, möchte sich klein machen und verbirgt sich, die HĂ€nde vor den Ohren, um ihren Namen nicht zu hören, zusammengekauert hinter der Treppe. Schmidt, Gendarmen und WĂ€rter wiederholen laut die vom TĂŒrhĂŒter verlesenen Namen.

SCHMIDT.
André Chénier!
CHÉNIER.
Dahier!
SCHMIDT.
Lucie Legray!
MADELEINE sich beherzt vordrÀngend.
Dahier!

Beide schicken sich an, den Karren zu besteigen. Die Legray betrachtet verstĂ€ndnislos die sich fĂŒr sie opfernde Madeleine. – GĂ©rard, der gerade eintritt, lĂ€ĂŸt erkennen, daß seine letzte Hoffnung gescheitert ist. Er lehnt sich halb ohnmĂ€chtig an die Wand, bedeckt das Gesicht mit den HĂ€nden und schluchzt.

CHÉNIER UND MADELEINE.
O ewige Liebe!

Der Karren setzt sich in Bewegung. Die Gendarmen machen ihm Platz. Das Tor wird hinter ihnen geschlossen.

Ende der Oper.